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Gute Gründe für Insulin

Als Ingrid Hansen in die Klinik geht, in der ihre Therapie auf Insulin umgestellt werden soll, hat sie gemischte Gefühle. Nach einer Kortisonbehandlung ist ihr Blutzucker-Langzeitwert, der HbA1c, zu hoch. Die Dosis ihrer Diabetesmedikamente lässt sich nicht mehr steigern, auch weil sie nur eine Niere hat.

Aus den Gesprächen mit ihrer Diabetologin weiß sie: Es ist Zeit für Insulin, um wieder auf Werte zu kommen, die Folgeschäden möglichst verhindern. Doch ihre Sorge bleibt: Was macht das Insulin mit dem Leben? Drei Wochen später ist die 62-jährige Typ-2-Diabetikerin längst wieder zurück im Beruf und erstaunt, wie gut der Wechsel geklappt hat. "Einiges ist jetzt anders. Aber aus der Klinik habe ich so viel Selbstvertrauen mitgebracht, dass ich damit umgehen kann", sagt sie.

Während Typ-1-Diabetiker ab der Diagnose Insulin spritzen, benötigen Typ-2-Diabetiker das Hormon meist erst später, wenn die körper­eigene Produktion nachlässt und zum schlechten Ansprechen der Körperzellen auf Insulin noch ein Insulinmangel kommt. Ein gesunder Lebensstil und Tabletten genügen dann nicht mehr, um die Zuckerwerte ausreichend zu senken.

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Gute Werte dank Insulin

Manchmal kommt die Therapie mit Tabletten an ihre Grenzen, so wie bei Ingrid Hansen. Sie lebt mit nur einer Niere

"Die Lebensqualität steht im Vordergrund", sagt Allwardt. "Deshalb wird die Therapie individuell zugeschnitten. Gerade ältere Menschen, die oft körperlich eingeschränkt sind, sollten sich gut damit zurechtfinden." Eine Diabetesschulung hilft beim Umgewöhnen. Viele Themen bewegen die Betroffenen — vom Spritzen im Restaurant bis zur Sorge vor Unterzucker im Auto. "Wichtig ist, das Diabetesteam offen anzusprechen", sagt Grazyna Wieder, Diabetesberaterin an der Medius Klinik Ostfildern-Ruit. "So können wir Ängste ausräumen, persönliche Umstände berücksichtigen und Lösungen suchen."

Die Art der Behandlung richtet sich meist nach dem Problem, das im Vordergrund steht. Sind die Nüchternwerte morgens zu hoch? Dann reicht oft, wie bei Ingrid Hansen, eine basal unterstützte orale Therapie (BOT): Zur Tabletteneinnahme kommt einmal täglich ein lang wirkendes Insulin. Schnellen die Werte nach dem Essen nach oben? Womöglich gleicht das eine supplementäre Insulintherapie (SIT) aus, bei der ein kurz wirkendes Insulin, gespritzt vor den Mahlzeiten, die Tabletten ergänzt.

Bei hohem Nüchternzucker und Zuckerspitzen nach dem Essen kann eine Kombination aus Verzögerungsinsulin und schnell wirkendem Insulin vor den Mahlzeiten sinnvoll sein. Mehr Flexibilität erlaubt eine intensivierte konventionelle Therapie (ICT), bei der man die Dosis des kurz wirkenden Insulins aufs Essen und die Aktivitäten abstimmt. Eine konventionelle Therapie (CT) mit zwei Injektionen eines Mischinsulins (fixe Mischung aus kurz und lang wirkendem Insulin) können Menschen mit Diabetes ausprobieren, die sich nicht oft spritzen möchten und regelmäßige Essgewohnheiten haben.

Manchmal ist Insulin auch nur vorübergehend nötig. Um wieder ohne Spritzen auszukommen, ist es entscheidend, die Ernährung anzupassen und sich regelmäßig zu bewegen. "Auch dabei unterstützt die Schulung", sagt Diabetesberaterin Wieder.

Es geht auch ohne

Ein typisches Beispiel könnte so aussehen: Ein übergewichtiger Mensch erhält die Diagnose Typ-2-Dia­betes und vom Arzt den Rat abzunehmen und sich mehr zu bewegen. Doch es klappt nicht so recht, die Blutzuckerwerte bleiben hoch und lassen sich auch mit dem Zuckersenker Metformin nicht in den Griff bekommen. Schließlich verschreibt der Arzt Insulin.

Häufig tut er das zu früh, sagen Experten. Typ-1-Dia­betiker könnten ohne die Gabe des Hormons nicht leben. Bei Menschen mit Typ 2 ist Insulin dagegen nicht immer eine gute Wahl. Vor allem wenn sie übergewichtig sind. Zwar gelangt der Zucker aus dem Blut dank Insulin in die Zellen, der Blutzucker sinkt.

Überschüssiger Zucker wird jedoch, auch "dank" Insulin, als Fett gespeichert — und bei vielen steigt das Gewicht. Ein Teufelskreis: "Je mehr sie wiegen, desto mehr Insulin brauchen sie. Und mit jeder Erhöhung der Dosis nehmen sie weiter zu", sagt Professor Stephan Martin, Direktor des Westdeutschen Diabetes- und Gesundheitszentrums in Düsseldorf. Gleichzeitig verhindert Insulin im Blut, dass der Körper Fett verbrennt und damit Gewicht abbaut.

Nach längerer Diabetesdauer führt oft kein Weg am Insulin vorbei. Solange Insulin aber nicht unbedingt sein muss, plädieren viele Experten dafür, gerade in den ersten Jahren nach der Diagnose andere Möglichkeiten auszuschöpfen.

Medikamente statt Insulin

Etwa eine Behandlung mit weiteren Medikamenten zusätzlich zu Metformin. Günstig bei Übergewicht sind sogenannte GLP-1-Analoga oder SGLT-2-Hemmer, weil sie das Gewicht senken helfen. GLP-1-Analoga fördern die körper­eigene Insulinproduktion, SGLT-2-Hemmer sorgen dafür, dass vermehrt Zucker aus dem Blut mit dem Urin ausgeschieden wird. Der Einsatz von Insulin lässt sich so zumindest für einige Jahre hinauszögern.

Diabetologe Martin favorisiert ­einen anderen Weg: ein Abnehmprogramm, bei dem man so viel Gewicht verliert, dass sich die Zuckerwerte normalisieren und man im besten Fall ohne Medikamente und Insulin auskommt. Fachleute sprechen von "Remission": einem Verschwinden des Dia­betes auf Zeit.

Dass das klappt, hat eine englische Studie mit 149 übergewichtigen Typ-2-Diabetikern bewiesen. Sie erhielten über mehrere Monate eine Formuladiät mit etwa 850 Kilokalorien täglich und lernten im restlichen Jahr, das erreichte Gewicht durch Umstellen der Ernährung und regelmäßige Bewegung zu halten. Zwei Jahre später benötigten 36 Prozent der Teilnehmer keine Medikamente mehr.

Ob der Diabetes verschwand, hing vom Gewichtsverlust ab: Zwei Drittel derjenigen, die mehr als zehn Kilo abgenommen hatten, blieben in Remission. Dafür waren die Teilnehmer allerdings ein Jahr lang intensiv von Fachleuten betreut worden. Und ihre Diabetes­diagnose lag weniger als sechs Jahre zurück. "Je länger der Diabetes besteht, desto schwieriger die Remission", sagt Martin. "Deshalb ist es so wichtig, Übergewicht frühzeitig abzubauen."

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Gute Werte ohne Insulin

Ein erreichbares Ziel, wenn man kräftig abnimmt und danach sein Gewicht hält – mit der richtigen Ernährung und viel Bewegung

Martin hat dazu ein Programm entwickelt, bei dem man drei Monate lang 1200 Kilokalorien am Tag zu sich nimmt. Nach einer Woche Formuladiät werden die Formulaprodukte allmählich durch kohlenhydratarme Mahlzeiten ausgetauscht. Denn, so Martin, abnehmen und Gewicht halten funktionieren nur, wenn der Körper möglichst wenig Insulin produziert. Wer es schafft, kann auf Medikamente und Insulinspritzen verzichten. Auch der Blutdruck sinkt, Gelenkschmerzen lassen nach, der Schlaf wird besser.

Abnehmen in der Gruppe

Von guten Erfolgen berichtet auch Monika Bischoff, Leiterin des Zentrums für Ernährungsmedizin und Prävention (ZEP) am Krankenhaus Barmherzige Brüder in München. Das ZEP bietet ein einjähriges Programm, ähnlich dem Konzept der englischen Studie, für stark Übergewichtige mit und ohne Diabetes. Die Teilnehmer erfahren nach der Formulaphase, wie sie Ernährung und Essverhalten ändern, bewegter leben und mit Stress besser umgehen können. Ein Großteil der Kosten wird nachträglich von den Krankenkassen erstattet.

Das Ziel: 25 Prozent Gewichtsverlust. "Bisher war die Hälfte der Absolventen erfolgreich und hält ihr Gewicht", sagt Monika Bischoff. Ob teilnehmende Typ-2-Diabetiker in Remission kommen, hat auch hier mit der Diabetesdauer zu tun. Ihre Tabletten- oder Insulindosis können sie in jedem Fall reduzieren.

Wer auf eigene Faust abnehmen will und den Diabetes mit Sulfonylharnstoff-Tabletten oder Insulin behandelt, sollte unbedingt mit dem Arzt sprechen: Wird diese Therapie nicht angepasst, führt eine Formuladiät rasch zu Unterzuckerungen. Diabetikern mit Übergewicht kann eine vom Arzt verordnete Ernährungstherapie beim Abnehmen helfen. Gemeinsam mit Ernährungsprofis einkaufen gehen, gesunde Zutaten kennenlernen, kochen: Das macht Spaß — und es lohnt sich!

Zuschuss von der Kasse

Eine Ernährungstherapie kann der Hausarzt auf Rezept verordnen. Die medizinische Notwendigkeit muss er der Krankenkasse auf einem Formular bestätigen. Manche Kassen übernehmen dann einen Teil der Kosten. Fragen Sie bei Ihrer Kasse nach!