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Wenn die Nachrichten derzeit die neuen Corona-Infektionszahlen melden, wandern die Gedanken von Gisela W. (76) öfter zurück in ihre Kindheit. Damals veränderte ein Virus ihr Leben für immer. Es begann scheinbar harmlos mit Halsschmerzen, Durchfall. Zwei Tage später hingen die Beine des dreieinhalbjährigen Mädchens schlaff und kraftlos am Körper.

Es folgten Wochen auf der Isolierstation, an die sich Gisela W. nur schemenhaft erinnert. Eine junge Frau, vielleicht 18 Jahre alt, lag mit ihr im Zimmer, ebenfalls gelähmt. Daneben ein Junge, von dem sie nur den Kopf sehen konnte. Der Körper steckte in einer riesigen Maschine. Die sogenannte Eiserne Lunge sollte ihn vor dem Ersticken bewahren, weil das Virus seine Atemmuskulatur gelähmt hatte. „Ob er es geschafft hat, weiß ich nicht“, erzählt die Münchnerin. Poliomyelitis nennen Mediziner die Infektion, die in Gisela W.s Kindheit regelmäßig ihren Seuchenzug durch Deutschland antrat. Jeder kannte sie als Kinderlähmung. Wenn die 76-Jährige heute einem jüngeren Menschen erklärt, warum ihr rechtes Bein kürzer ist als das linke und sie bei jedem Schritt zur Seite knickt, blicken sie oft fragende Augen an. „Viele wissen gar nicht mehr, was das ist, die Kinderlähmung“, sagt sie.

Gisela W. hatte als Kind Poliomyelitis

Gisela W. hatte als Kind Poliomyelitis

Kind wird geimpft

Poliomyelitis (Kinderlähmung)

Polio ist eine Viruserkrankung, die in schweren Fällen Lähmungen verursacht. Durch die Impfung ist die Poliomyelitis in Deutschland verschwunden zum Artikel

Der Grund, warum die Krankheit heute viele kaum kennen, ist eine der erfolgreichsten Errungenschaften der Medizin: „Schluckimpfung ist süß, Kinderlähmung ist grausam.“ Mit diesem Slogan und Bildern von Kindern mit Krücken und Beinschienen, wie auch Gisela W. sie lange tragen musste, warb ab Anfang der 1960er- Jahre eine große Kampagne für den Schutz. Der Erfolg war durchschlagend. Gisela W. erinnert sich noch an die Zeit, als es zwei Arten von Toiletten gab, für Geimpfte und Nicht-Geimpfte. „Krank geworden ist aber fast niemand mehr“, erzählt sie. Erkrankten 1961 noch 4700 Kinder, waren es vier Jahre später weniger als 50, ein Rückgang um 99 Prozent. Heute ist die Kinderlähmung aus Deutschland verschwunden – und aus fast allen anderen Ländern der Welt.

Ein Triumph mit hohem Kosten

„Impfungen haben viele Infektionskrankheiten noch einmal deutlich zurückgedrängt“, sagt Professor Gérard Krause vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung. Zusammen mit der Verbesserung von Hygiene und Lebensbedingungen ließen sie die Kindersterblichkeit auf einen Bruchteil sinken. Erkrankungen, die zahllose Tote forderten, wurden extrem zurückgedrängt oder sogar völlig ausgerottet.

Die Impfung gegen Kinderlähmung war früher eine Schluckimpfung

Die Impfung gegen Kinderlähmung war früher eine Schluckimpfung

Vor tödlichen Infektionen schützen – und das nur mit einer Spritze oder ein paar Tropfen Serum auf einem Stückchen Zucker. Es klingt wie ein wahr gewordener Traum. Doch der Weg zum Erfolg war keineswegs geradlinig, wie der Schweizer Medizinhistoriker Professor Eberhard Wolff in seinen Forschungen gezeigt hat. „Dass dieser Triumph der Medizin nur langsam, mit vielen Nebenwirkungen und sozialen Kosten erreicht wurde, ist kaum mehr bekannt“, so Wolff. Anteil an dem verzögerten Effekt hatte auch die Ärzteschaft selbst – durch vorschnelle Euphorie und einen mangelnden Blick für mögliche Risiken.

Die Geschichte der modernen Impfung beginnt Ende des 18. Jahrhunderts, als eine Krankheit mehr Menschenleben forderte als die meisten bis dahin bekannten. Nach einigen Tagen heftigen Fiebers, Kopf- und Gliederschmerzen zeigte sie ihr schreckliches Gesicht: Dunkle, übel riechende Pusteln überzogen den Körper des Kranken. Etwa ein Viertel der Pockenpatienten starb. Wer überlebte, war oft blind, taub, von Narben entstellt. Ein wirksames Mittel dagegen gab es nicht.

Achtjähriger als Versuchskaninchen

Bis der britische Landarzt Edward Jenner eine Methode testete, die in der Volksmedizin bereits vereinzelt eingesetzt wurde. Die Annahme dahinter: Wer die Kuhpocken durchgemacht hat, ist gegen die menschliche Form der Krankheit immun. Der kleine Held von Edward Jenners aus heutiger Sicht ethisch äußerst fragwürdigem Experiment: James Phipps, der achtjährige Sohn seines Gärtners. Der Arzt ritzte den Oberarm des Jungen ein und strich Flüssigkeit in die Wunde, die er aus den Kuhpocken-Bläschen an der Hand einer Milchmagd gewonnen hatte. Wenige Wochen später infizierte Jenner den Jungen mit dem Eiter eines Pockenkranken. James Phipps blieb gesund. Wie auch Jenners eigener elf Monate alter Sohn Robert, an dem der Arzt den Test wiederholte. Der Mediziner taufte sein Vorgehen „vaccination“ – nach dem lateinischen Wort für Kuh: vacca.

Der Impfstoff gegen Pocken wurde aus der Kuh gewonnen

Der Impfstoff gegen Pocken wurde aus der Kuh gewonnen

Auch wenn Jenner heute als Urvater des Impfens gilt. Erfunden hat er die Methode nicht. „Geimpft wurde in Europa bereits Anfang des 18. Jahrhunderts“, berichtet Historiker Wolff. Ärzte nutzten bei der sogenannten Inokulation allerdings Eiter von an Pocken erkrankten Menschen. Dieser wurde bei Gesunden in Wunden an Armen oder Beinen eingebracht. Auch von Kaiserin Maria Theresia von Österreich ist bekannt, dass sie ihre Kinder „inokulieren“ ließ. Die Maßnahme war aus heutiger Sicht hochriskant, endete nicht selten tödlich, konnte sogar Quelle einer Epidemie werden. Im Vergleich dazu erschien Jenners „Vaccination“ harmlos. Nach anfänglicher Skepsis verbreitete sie sich rasant über ganz Europa. „Zeitgenossen berichten, dass aufklärerische Ärzte und auch Pfarrer jedes Kind impften, dem sie habhaft werden konnten“, erzählt Wolff. „Die Pocken sind ausgerottet“, triumphierte 1803 sogar eines der Bücher über das Impfen. Doch waren die Jubelrufe voreilig. Wie zu Beginn des Jahres 2021 die Hoffnung groß war, mit den ersten Impfstoffen gegen das neue Coronavirus die Pandemie rasch zu beenden, wurde die Erwartung auch damals enttäuscht.

Dr. Jonas Salk entwickelte einen Polio-Impfstoff als Spritze

Dr. Jonas Salk entwickelte einen Polio-Impfstoff als Spritze

Syphilis durch die Pockenimpfung

Ein Grund: Impfskepsis. Die Bevölkerung teilte die Begeisterung der Ärzte keineswegs durchgängig. „Impfgegner gibt es, so lange es die Impfung gibt“, sagt Wolff. Infektionsexperte Krause kann die anfängliche Zurückhaltung der Menschen durchaus verstehen. Impfen war etwas völlig Neues. Bislang hatten Mediziner meist versucht, Schwerkranke von ihren Leiden zu befreien. Geimpft aber wurden Gesunde. „Zudem blieb nicht verborgen, dass die Methode unerwünschte Nebenwirkungen hatte“, sagt Krause. So konnten bei der damals üblichen Praxis, bei der man Flüssigkeit aus menschlichen Pusteln nutzte, vereinzelt Krankheiten wie die Syphilis übertragen werden. Auch die Kuhpocken selbst waren nicht immer so harmlos wie gedacht. Heute gehören Impfstoffe zu den sichersten Arzneien, die es gibt. Eines aber gilt noch immer: Statistisch gesehen retten sie zweifellos zahllose Leben. Im Einzelfall lässt sich aber nicht garantieren, dass die Spritze mehr nützt als schadet.

Nicht alle Ängste erwiesen sich indes als berechtigt. Kritisch äußerte sich zum Beispiel der Philosoph Immanuel Kant. Er fürchtete, mit den Kuhpocken könne „tierische Brutalität“ eingeimpft werden. Gerüchte gingen um, dass Kinder nach der Impfung wie Kühe brüllten. Aus heutiger Sicht klingt das absurd. Doch entsprach die Vorstellung, dass sich mit Körpersäften Charaktereigenschaften übertragen lassen, durchaus der Zeit. Zum Beispiel versuchten Mediziner, mit der Übertragung von Lämmerblut tobsüchtiges Verhalten zu heilen.

Die Skepsis wurde weiter befeuert, als nach einiger Zeit neue Pockenwellen auftraten – auch unter Geimpften. Die Medizin musste erst lernen, dass die Wirkung einer Impfung nicht immer lebenslang anhält. Insgesamt zeigte sich dennoch: Der Schutz wirkt. Vorreiter der Impfpflicht war 1807 das Königreich Bayern. Nachdem es im Deutsch-Französischen Krieg erneut zu einer verheerenden Pocken-Epidemie mit 150 000 Toten gekommen war, wurde die Impfung durch das „Reichsimpfgesetz“ 1874 schließlich Pflicht für alle. Wer sich weigerte, konnte zur Not mit Polizeigewalt dazu gezwungen werden, was laut Wolff allerdings selten passierte.

Meilensteine der Impfgeschichte

  • 14. Mai 1796: Der Landarzt Edward Jenner führt die erste Pockenschutzimpfung mithilfe von Kuhpockenerregern durch.
  • 26. August 1807: Als erster deutscher Staat führt das Königreich Bayern die Impfpflicht gegen Pocken ein.
  • 8. April 1874: Das Reichsimpfgesetz verpflichtet alle deutschen Bürger zur Pockenimpfung.
  • 1876: Der deutsche Mediziner Robert Koch weist nach, dass Bakterien Krankheiten verursachen können.
  • 6. Juli 1886: Der französische Biochemiker Louis Pasteur unternimmt einen Impfversuch an einem vermutlich mit Tollwut infizierten Jungen. Dieser bleibt gesund.
  • 1896: Impfstoffe gegen Cholera und Typhus werden entwickelt.
  • 1953: Die DDR führt eine Impfpflicht ein, zunächst gegen Pocken und Tuberkulose, später auch gegen andere Krankheiten.
  • 1955: Der US-Arzt Jonas Salk entwickelt den ersten Impfstoff gegen Kinderlähmung.
  • 8. Mai 1980: Die Pocken werden von der Weltgesundheitsorganisation offiziell für ausgerottet erklärt.
  • 1990: Letzter gemeldeter Fall von Kinderlähmung in der Bundesrepublik.
  • 1. März 2020: In Deutschland wird eine Impfpflicht gegen Masern eingeführt. Sie gilt für Kinder und Personal in Gemeinschafts- und Gesundheitseinrichtungen.
  • 2. Dezember 2020: In England wird der erste Impfstoff gegen Sars-Cov-2 zugelassen.

Mit Impfkritik auf Stimmenfang

Der Zwang provozierte aber auch wachsenden Widerstand. Politisch war Impfen in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts eines der Topthemen. Zahllose Sitzungen von Reichs- und Landtagen widmeten sich teils sogar exklusiv der „Impf-Frage“. Gestritten wurde auch damals darüber, was höher zu bewerten sei: die Selbstbestimmung des Einzelnen oder das Wohl der Allgemeinheit. Noch 1913 sprach der Deutsche Ärztetag von einer „Schande“, „dass sich Reichstagsabgeordnete ihren Wählern gegenüber verpflichtet haben, gegen das Impfgesetz zu stimmen, bloss um Stimmen zu fangen“. Gleichzeitig schossen impfkritische Vereine aus dem Boden, ihr gemeinsames Sprachrohr: das Monatsblatt „Der Impfgegner“, das mit Unterbrechungen bis 1933 erschien. Die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten bedeutete für die organisierte Impfkritik dann erstmal das Aus. Obwohl manche Impfgegner in Adolf Hitler anfangs einen Gesinnungsgenossen vermuteten, wohl aufgrund seiner Förderung der auch damals in weiten Teilen impfskeptischen Homöopathie.

Die Argumente der Impfgegner von einst klingen dabei teils recht bekannt. Impfungen seien unnatürlich, vergifteten den Körper. Dass sie die Infektionszahlen verringern, sei schlicht eine Lüge. Selbst Verschwörungstheorien gab es bereits. So galten Impfungen manchen als Instrument der „jüdischen Weltverschwörung“, die durch „Einimpfen von Krankheiten“ die Menschheit unterwerfen wolle. Für Aufsehen sorgte das Buch „Impfriedhof“, in dem der Autor Hugo Wegener eine große Zahl vermeintlicher Folgeschäden dokumentierte, um die Bevölkerung „in Furcht und Schrecken“ zu versetzen.

Pocken werden zur seltenen Erkrankung

Dass es solche Schäden vereinzelt tatsächlich gab, ist freilich anzunehmen – auch wenn Ärzte das anfangs bestritten. „Die Pockenimpfung war sehr wirksam, hatte aber aus heutiger Sicht eine Menge unerwünschter Wirkungen“, sagt Epidemiologe Krause. So konnte sie in seltenen Fällen zu gefährlicher Hirnhautentzündung führen. Zugleich machte sie die Pocken in Deutschland zu einer seltenen Erkrankung.

Schwung in die Impfstoffentwicklung brachte schließlich die Erkenntnis, dass mikroskopisch kleine Keime die Quelle tödlicher Erkrankungen sein können. Es begann das Zeitalter der Bakteriologie. Ein neues Verständnis der Infektionskrankheiten ergab sich daraus – und bald neue Impfungen, zum Beispiel gegen Cholera und Typhus. 1913 präsentierte der deutsche Mediziner Emil von Behring einen Impfstoff gegen die Racheninfektion Diphtherie, den „Würgeengel der Kinder“. In den Schützengräben des Ersten Weltkriegs erlagen im Lazarett zahlreiche Verletzte nicht ihren Wunden, sondern dem Tetanuserreger. Die Impfung dagegen rettete viele Leben. Moderne Mikroskope schließlich machten neben Bakterien auch Viren sichtbar, weitere Impfstoffe folgten. So entwickelte der US-Arzt Jonas Salk 1955 die erste vorbeugende Spritze gegen Kinderlähmung (Polio). In den USA wurde er als Held gefeiert. 1980 konnte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) verkünden: Die Pocken sind ausgerottet. Ohne Impfung undenkbar.

abgeschwächte oder abgetötete Erreger unschädliche Erregerteile B-ZelleGedächtniszelleAntikörper Fresszelle

1. Die Person wird geimpft, zum Beispiel mit abgeschwächten oder abgetöteten Erregern oder unschädlichen Teilen des Erregers.

2. Der Körper produziert Antikörper gegen die Erreger oder Erregerteile. Antikörper sind Stoffe, die bestimmte Zellen des Immunsystems (B-Zellen) bilden, um Infektionen abzuwehren.

3. Die Antikörper bleiben zunächst im Körper und ein Teil der B-Zellen entwickelt sich zu Gedächtniszellen. Diese Zellen sind auf den Erreger spezialisiert und können bei einem erneuten Kontakt schnell reagieren.

4. Die Person trifft auf den Erreger, gegen den sie geimpft wurde. Die Gedächtniszellen bilden rasch neue passende Antikörper. Diese markieren den Erreger, damit das Immunsystem ihn unschädlich machen kann.

5. Der von den Antikörpern markierte Erreger wird von Fresszellen beseitigt.

6. Das Immunsystem hat den Erreger bekämpft. Die geimpfte Person bleibt gesund.

Rückschläge durch unsauberes Arbeiten

Unsauberes Arbeiten und Produktionsdruck führten aber auch zu katastrophalen Rückschlägen. 1930 nahmen sich in Lübeck zwei Ärzte vor, den wenige Jahre zuvor entwickelten Tuberkuloseimpfstoff auch hierzulande einzuführen. Doch das schlampig produzierte Serum enthielt lebende Bakterien. 77 Kinder starben. In den USA kam es nach der Einführung des Schutzes gegen Kinderlähmung plötzlich zu Erkrankungen, ja sogar Todesfällen. Auch hier war die Ursache ein Produktionsfehler – mit verheerenden Folgen nicht nur für die direkt Betroffenen. Im Herbst 1955 unterbrach man in Westdeutschland die Impfungen. Es kam zu neuen Epidemien und die Schutzmaßnahme geriet erneut in Verruf.

Inzwischen gehören Impfstoffe zu den am besten kontrollierten und getesteten Arzneimitteln. Ihre Prüfung übernimmt in Deutschland das Paul-Ehrlich-Institut. Jeder gemeldete Verdacht auf einen Impfschaden wird dort von unabhängigen Forschern eingehend untersucht. Dass eine Impfung zu einer schweren Erkrankung führt, ist erwiesenermaßen extrem selten.

Passieren kann es trotzdem. Wie 2009, als sich in Skandinavien Fälle von Narkolepsie häuften, einer Störung des Schlaf-Wach-Rhythmus. Untersuchungen zeigten einen Zusammenhang mit einem Impfstoff gegen die Schweinegrippe. Bei jüngeren Menschen mit einer bestimmten genetischen Veranlagung erhöhte die Impfung das Narkolepsie-Risiko. Hinzu kommen musste wohl, dass sie sich mit der echten Grippe infiziert hatten. „Diese Erfahrung sollte uns auch heute in Erinnerung bleiben“, sagt Krause.

Impflücken durch die Pandemie

Bei etablierten Impfstoffen, zum Beispiel gegen Masern oder Polio, ist das nicht zu befürchten. Durch ihre gute Wirksamkeit entsteht allerdings ein ganz anderes Risiko: Die Menschen kennen die Gefahr von Erkrankungen wie Kinderlähmung nicht mehr, da diese kaum noch auftreten. Das macht nachlässig.

Doch diese Erreger können jederzeit zurückkehren. Das Ziel, Polio wie einst die Pocken auszurotten, musste bereits wiederholt verschoben werden. Bei den Masern ist diese Hoffnung in den vergangenen Jahren in weite Ferne gerückt. Seit 2016 verbreiten sie sich weltweit wieder rasant. Allein 2020 starben daran wohl mehr als 200 000 Menschen.

Als Folge erlebte sogar die Impfpflicht, die seit dem Ende der DDR in Deutschland Geschichte schien, eine Auferstehung. „Die Corona-Krise könnte die Situation noch verschärfen“, so Krause. Auch bei Polio. Schon vor mehr als einem Jahr beklagte die WHO dass während der aktuellen Pandemie schätzungsweise 80 Millionen Babys nicht gegen Kinderlähmung geimpft wurden. Andererseits ist die Hoffnung, die viele in eine Impfung gegen das neue Corona-Virus setzen, noch immer groß – auch wenn die Erwartungen, die Pandemie rasch zu beenden, enttäuscht wurden.

Die Forschung am Impfstoff gegen SARS-CoV-2 beginnt im Labor

Die Forschung am Impfstoff gegen SARS-CoV-2 beginnt im Labor

Inzwischen hat man fast ein Jahr Erfahrungen mit den Impfstoffen gesammelt. Nebenwirkungen wie das erhöhte Risiko für Hirnthrombosen bei Astra Zeneca für jüngere Menschen oder die Fälle von Herzmuskelentzündungen durch mRNA-Impfstoffe bei jungen Männern wurden rasch erkannt und die Empfehlungen angepasst. Fest steht: Der Nutzen der Impfung überwiegt – und das mit völliger Klarheit. Dennoch übertreffen die Infektionszahlen der vierten Welle im Herbst 2021 die aller vorigen. Denn: Die Impfquote bei weitem nicht hoch genug, um das Virus erfolgreich zurückzudrängen. Wie vor mehr als 150 Jahren werden die Forderungen nach einer Impfpflicht lauter.

Auch Gisela W. weiß, dass Impfungen Risiken bergen. So konnte die Schluckimpfung gegen die Kinderlähmung – im Gegensatz zur heutigen Totimpfung per Spritze – in seltenen Fällen die Krankheit auslösen, statt davor zu schützen. In ihrer Selbsthilfegruppe für Polio-Kranke lernte die Münchnerin eine Frau kennen, der genau das passiert ist.

Infektionsfolgen sind nicht absehbar

Doch weiß Gisela W. eben auch, wie eine Welt ohne Polioimpfung aussieht. Nach vielen Jahren, in denen sie mit den Einschränkungen gut zurechtkam, meldete sich bei ihr – wie bei vielen anderen Betroffenen – die Kinderlähmung erneut. Mediziner sprechen vom Post-Polio-Syndrom. Die Patienten leiden an Müdigkeit, Schmerzen, Muskelschwäche. Ohne Gehwagen fühlt sich Gisela Werner inzwischen zu unsicher. Auch war ihr Dickdarm gelähmt und musste entfernt werden. „Bei Corona weiß ebenfalls niemand, mit welchen Folgen die Erkrankten auf lange Sicht rechnen müssen“, sagt sie. Für sie stand daher sofort fest, dass sie sich gegen Corona impfen lassen würde. „Ich bin inzwischen auch geboostert“, sagt sie. Vertragen hat sie es gut. Im vergangenen Jahr hat sie viele Diskussionen geführt, in der Selbsthilfegruppe für Poliokranke, auch mit Freunden und Freundinnen. „Ich habe ein gefährliches Virus durchgemacht und weiß, was das bedeutet“, sagt sie dann. Nicht alle konnte sie überzeugen.

Quellen zum Weiterlesen:

Malte Thießen, Immunisierte Gesellschaft, Impfen im 19. und 20. Jahrhundert, Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft. Band 225, Vanderhoek & Ruprecht Verlage