Poliomyelitis (Kinderlähmung)
Was ist Poliomyelitis?
Das Polio-Virus gehört zur Gruppe der Enteroviren, welche Magen und Darm passieren können ohne durch die Magensäure angegriffen zu werden (säureresistent). Es gibt drei verschiedene Polio-Viren, welche im Labor unterschieden werden können (Serotyp 1,2 und 3). Gefürchtet ist das Polio-Virus, da es neben grippalen und gastroenteralen Symptomen bei circa einem von 100 Infizierten das Zentralnervensystem befallen kann und es zur Ausbildung von Hirnhautentzündungen, Lähmungen und Atemstillstand kommen kann. Die Lähmungen bessern sich oft nur teilweise und es können Schäden an der Muskulatur und am Skelett auf Dauer zurückbleiben.
Verbreitung: In welchen Ländern gibt es Poliomyelitis?
Vor der Einführung der Impfung waren Polio-Viren weltweit verbreitet. Heute ist die Kinderlähmung dank konsequenter Impfung beinahe ausgestorben. In zwei Nationen, in denen viele Menschen ohne Impfschutz leben, bricht die Krankheit immer wieder aus und kann auch in andere Regionen eingeschleppt werden: Afghanistan und Pakistan. Afrika dagegen, wo es jahrzehntelang ebenso zu Ausbrüchen gekommen war, wurde im August 2020 von der unabhängigen Africa Regional Certification Commission für polio-frei (für den Wildtyp) erklärt.
Die deutsche Ständige Impfkommission (STIKO) empfiehlt die Polio-Impfung deshalb auch hierzulande weiterhin. In Deutschland leiden noch schätzungsweise zwischen 50.000 und 60.000 Menschen an den Spätfolgen einer Polioinfektion, die sie vor Jahrzehnten durchgemacht haben.
Übertragungsweg: Wie steckt man sich mit Poliomyelitis an?
Das Polio-Virus gelangt über Mund oder Nase in den Körper, als eine Schmier- oder Tröpfcheninfektion. Das bedeutet, das Virus wird beispielsweise von einer Oberfläche auf die eigene Hand übertragen. Langt sich nun der Betroffene an den Mund oder isst etwas, kann das Virus über den Mundraum eindringen. Auch durch verunreinigte Lebensmittel selbst oder durch Händeschütteln kann das Virus weitergereicht werden. Ebenfalls möglich ist die Übertragung durch kleinste Tröpfchen beim Sprechen oder Atmen. Vom Mundraum gelangt der Erreger zunächst in den Darm, aus welchem er in die Lymph- und Blutgefäße auswandern und sich hierüber im ganzen Körper ausbreiten kann.
Eine Weitergabe des Virus ist so lange möglich, so lange es mit dem Stuhl ausgeschieden wird. Dies kann bis zu sechs Wochen möglich sein.
Wird das zentrale Nervensystem vom Virus befallen, führt dies zu einer Entzündungsreaktion. Verläuft eine solche Entzündung zu stark, können Nervenzellen vorübergehend oder für immer ausfallen. Betroffen sind vor allem solche Nervenzellen beziehungsweise Nerven, die zu den Skelettmuskeln führen. Die geschädigten Nerven gehen zugrunde und es besteht keine Verbindung mehr zu den jeweiligen Muskeln. Das Gehirn, welches über die Nerven Signale zur Steuerung der Muskulatur wie beispielsweise "Heben des Beines" aussendet, verliert den Kontakt zu den Muskeln. Diese lassen sich nicht mehr willentlich bewegen, das heißt sie sind gelähmt und schlaff und verschmächtigen zunehmend (Muskelatrophie, sichtbar als "dünnes Bein").
Symptome: Welche Beschwerden verursacht Poliomyelitis?
Die meisten Menschen, die sich mit den Viren anstecken (mehr als 95 Prozent) haben Glück: Sie merken gar nichts von der Infektion, denn sie entwickeln keine Symptome. Nach der Infektion sind sie immun gegen den Polio-Erreger, mit dem sie sich angesteckt haben. Vollständig geschützt vor der Kinderlähmung sind sie allerdings nicht, weil es weltweit drei verschiedene Typen der Polio-Viren gibt, ihr Immunsystem erkennt nur einen davon sicher wieder. Einen umfassenden Schutz kann nur eine Impfung bieten.
Bei einem geringen Teil der Infizierten kann sich ein unterschiedlicher Verlauf der Poliomyelitis zeigen:
- Abortive Poliomyelitis: Etwa eine Woche nach Ansteckung kommt es zu unspezifischen Symptomen wie zum Beispiel Fieber, Halsschmerzen, eine Magendarmentzündung, Übelkeit, Kopf- oder Muskelschmerzen. Meist vergehen sie nach einigen Tagen wieder. Das Nervensystem ist bei dieser Form nicht betroffen.
Infiziert das Polio-Virus Zellen des Zentralen Nervensystems (ZNS) wird zwischen einer Form ohne Lähmungen (nicht-paralytisch) und mit Lähmungen (paralytisch) unterschieden.
- Nichtparalytische Poliomyelitis: Ungefähr drei bis sieben Tage nach oben genannten Symptomen (abortive Poliomyelitis) kommt es zur Entwicklung von Fieber, Nackensteifigkeit, Rückenschmerzen und Muskelspasmen als Zeichen einer Hirnhautentzündung (aseptische Meningitis).
- Paralytische Poliomyelitis: Bei wenigen Menschen kommt es zunächst nach den Symptomen der abortiven Poliomyelitis zur Entwicklung einer Hirnhautentzündung mit Fieber und stärksten Schmerzen in Rücken, Nacken und der Muskulatur (aseptische Meningitis). Des weiteren kommt es zu Muskellähmungen. Diese sind meist ungleichmäßig (asymmetrisch) verteilt und betreffen am häufigsten die Beine. Aber auch die Arm-, Bauch-, Brust- oder Augenmuskulatur kann betroffen sein. In seltenen Fällen kann auch das Zwerchfell ausfallen. Das Zwerchfell ist der wichtigste Atemmuskel. Wenn das Zwechfell gelähmt ist, kann der Betroffene nicht mehr ausreichend atmen und könnte versterben.
Sobald der Verdacht auf Poliomyelitis besteht, sollten Patienten im Krankenhaus isoliert werden, damit sich die Krankheit nicht ausbreitet. Dort können sie notfalls auch künstlich beatmet oder ernährt werden, wenn Lähmungen der Atem- oder Schluckmuskeln auftreten.
Von einer schweren Polio-Infektion bleiben oft Behinderungen zurück, manche Lähmungen bilden sich nicht wieder vollständig zurück, Muskeln verkümmern, Gliedmaßen können durch die Krankheit verformt werden (beispielsweise Fußdeformitäten).
Post-Polio-Syndrom (PPS): Menschen, die eine Polioinfektion mit Lähmungserscheinungen durchgestanden haben, können Jahrzehnte später das Post-Polio-Syndrom (PPS) entwickeln. Muskelschwund, Muskelschmerzen und wiederkehrende Lähmungen sind hierfür typisch. Das PPS ist ursächlich nicht völlig geklärt. Es wird aber angenommen, dass überlebende Nervenzellen die Arbeit von abgestorbenen Nachbarzellen übernehmen, dadurch auf Dauer überlastet sind und deshalb vorzeitig altern und absterben. Schätzungsweise leben etwa zwischen 50.000 und 60.000 Menschen in Deutschland mit PPS.
Diagnose: Wie wird eine Poliomyelitis festgestellt?
Um das Polio-Virus nachzuweisen, werden geeignete Proben in ein Speziallabor geschickt. Am besten eignet sich hierfür eine Stuhlprobe. Gegebenenfalls kann auch ein Rachenabstrich oder das Nervenwasser (Liquor) untersucht werden. Die Untersuchung des Nervenwassers (Lumbalpunktion) gibt Hinweise darauf, ob sich das Virus bereits im zentralen Nervensystem (Rückenmark und Gehirn) ausgebreitet hat. Ebenfalls möglich ist die Suche nach spezifischen Antikörpern im Blut der Betroffenen. Antikörper sind Abwehrstoffe, die der Körper gegen den Erreger bildet. Dies dauert jedoch einige Tage.
Die Unterscheidung, ob es sich um einen Polio-Virus Wild-Typ handelt oder um einen durch die Impfung übertragenen Typ (Vaccine-assoziiert) ist durch spezielle molekulare Untersuchungen möglich.
Therapie: Wie wird die Kinderlähmung behandelt?
Ein spezifisches Medikament (antivirale Therapie) gegen das Polio-Virus gibt es bisher nicht. Daher ist nur eine symptombezogenen Therapie mögich, dass heißt, die Beschwerden können gelindert werden. Wärme und Schmerzmittel können Muskelschmerzen lindern. Fallen lebenswichtige Muskeln aus, werden Patienten auf der Intensivstation betreut und dort beatmet oder ernährt. Nach einer akuten Poliomyelitis brauchen Patienten meist eine längere Zeit Schonung und eine Rehabilitationsbehandlung. Physiotherapie kann helfen, mit Lähmungen zurechtzukommen und sie teilweise zu verbessern. Hilfsmittel wie beispielsweise speziell angefertigte Schuhe oder Schienen können das Gehen erleichtern. In manchen Fällen kann eine orthopädische Operation helfen, bei der zum Beispiel Muskelgewebe versetzt wird.
Vorbeugen: Wie kann man einer Poliomyelitis vorbeugen?
"Schluckimpfung ist süß, Kinderlähmung ist grausam" lautete der Slogan, mit dem in den 1960er Jahren für die Polio-Impfung geworben wurde. Heute verwendet man hierzulande einen neuen Impfstoff, der gespritzt wird. Wichtig ist die Impfung nach wie vor, denn die Viren können jederzeit aus anderen Teilen der Welt wieder nach Deutschland gelangen. Das Robert Koch-Institut empfiehlt, bereits Säuglinge immunisieren zu lassen. Dafür sind mehrere Impfdosen im ersten und zweiten Lebensjahr nötig. Zehn Jahre später sollte die Impfung aufgefrischt werden. Eine weitere Auffrischung wird nur für Risikogruppen empfohlen, also zum Beispiel für Touristen, die in ein Gebiet reisen, wo die Krankheit verbreitet ist, für Gesundheitspersonal und für Menschen, die Kontakt zu Infizierten hatten.
Unser beratender Experte:
Professor Dr. Reinhard Dengler ist Facharzt für Neurologie und war bis zu seinem Ruhestand 2015 als Direktor der Neurologischen Klinik der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) tätig. Aktuell ist er weiterhin klinisch am International Neuroscience Institute-Hannover (INI) tätig und im Hochschulrat der MHH aktiv. An der MHH wird weiterhin eine Sprechstunde für Patienten mit Post-Polio-Syndrom angeboten.
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder –behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen. Die Beantwortung individueller Fragen durch unsere Experten ist leider nicht möglich.