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Lecanemab: Ein neuer Wirkstoff gegen Alzheimer?

Es beginnt mit kleinen Dingen. Wo steht noch das Auto? Wie hieß unsere Nachbarin gleich? Irgendwann findet die Tochter den Hausschlüssel im Kühlschrank, der Schwiegersohn die Butter im Bücherregal – und der Heimweg, den man so oft gegangen ist, führt nicht mehr nach Hause.

1,2 Millionen Menschen in Deutschland leben derzeit mit der Krankheit Alzheimer. Im Jahr 2050 werden es fast zwei Millionen sein. Menschen, deren Geist stirbt, lange bevor auch der Körper aufgibt. Fast die Hälfte der Deutschen fürchtet sich davor, eines Tages an diesem Leiden zu erkranken. Denn trotz intensiver Forschung hat die Medizin nichts gegen das große Vergessen in der Hand. Bisher zumindest.

Erstmals wirkt ein Medikament gegen die Ursache

Ergebnisse einer Studie an fast 1800 Menschen mit Alzheimer bescheinigen einem neuen Medikament nun erstmals eine „kausale“ Wirkung gegen das Leiden – also eine Wirkung gegen die Ursache der Erkrankung. Das Mittel heißt Lecanemab, gesprochen „Leh-Kah-Neh-Mapp“. Es ist nicht das erste seiner Art.

Im Gegensatz zu allen vorigen Medikamenten scheint die neue Arznei aber tatsächlich einen Effekt zu haben: Nach 18 Monaten schnitten Alzheimererkrankte, die das Mittel bekamen, in Gedächtnistests messbar besser ab als Erkrankte, die ein Scheinmedikament erhielten. Auch im Gehirn der Therapierten tat sich etwas: Der toxische Eiweißmüll im Hirngewebe, der als Kennzeichen für Alzheimer gilt, wurde weniger. Binnen eineinhalb Jahren verzögerte das Mittel den geistigen Abbau um gut ein Viertel. Unter Fachleuten ernteten Studie und Resultate viel Lob. Einige von ihnen sprachen nach Veröffentlichung der Ergebnisse sogar von einer „Zeitenwende“.

Erfolg von Lecanemab geringer als gedacht

Das mit der Zeitenwende ist bei näherem Hinsehen sicher übertrieben. Alzheimer wird durch Lecanemab weder gestoppt noch geheilt. Der Effekt ist sogar recht klein. „Die Patientin oder der Patient wird den Unterschied nach 18 Monaten Medikation wie in der Studie nicht merken“, sagt Professor Stefan Teipel vom Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen in Rostock.

Der Verlust von Erinnerung oder Orien­tierungsvermögen schreite mit der Behandlung weiter voran, nur eben etwas langsamer als ohne das neue Medikament, erklärt der Experte für klinische Demenzforschung. Aber helfen könnte Lecanemab dennoch. „Der Punkt ist: Von der Alzheimer-Diagnose bis zum Tod dauert es durchschnittlich zehn bis elf Jahre“, sagt der Psychiater. Die Hoffnung sei, dass eine Behandlung mit der neuen Arznei oder Kombinationstherapien sich später, nach mehr als 18 Monaten Therapie, in einem Effekt niederschlage, den auch die Behandelten wahrnehmen. „Die Studien, die das belegen können, haben wir aber noch nicht.“

Wechselwirkungen mit Gerinnungshemmern

Es gibt also etwas Anlass zur Hoffnung – bleibt die Frage: für wen? „Selbst wenn das Medikament bei uns erhältlich sein wird, ist es lediglich für eine kleine Gruppe von Erkrankten geeignet“, dämpft Teipel abermals die Erwartungen. Das sind Menschen, die zwar schon eine Alzheimer-Diagnose bekommen haben, aber bislang nur wenige geistige Einschränkungen bei sich feststellen. „Hinzu kommt, dass ein Teil dieser Patientinnen und Patienten zusätzlich andere Erkrankungen hat oder Medikamente einnimmt, die eine Behandlung mit Lecanemab erschweren oder ausschließen könnten“, so Teipel. So sei etwa die gleichzeitige Medikation mit Gerinnungshemmern, sogenannten Antikoagulanzien, ein Risikofaktor.

Heftige und relativ häufige Nebenwirkungen

Das liegt an den Nebenwirkungen: Lecanemab kann Schwellungen und Blutungen im Gehirn verursachen. Im Verlauf der Studie gab es diese Nebenwirkungen sogar recht häufig – und es kam zu drei Todesfällen, von denen mindestens zwei mit der gleichzeitigen Einnahme von Gerinnungshemmern und Lecanemab zusammenhängen. „Wenn man alles berücksichtigt, schätze ich, dass in Deutschland vielleicht rund 20 000 Menschen mit Alzheimer für eine Therapie mit Lecanemab infrage kommen“, sagt Teipel. Es sind Menschen, bei denen die Krankheit noch im Anfangsstadium ist, die von dem Medikament profitieren könnten.

Weltweite wird viel in die Forschung investiert

Für die Pharmaindustrie wiederum geht es um viel Geld. Die große Zahl der aktuellen und künftigen Patientinnen und Patienten weltweit verspricht ein Milliardengeschäft. Sofern die Firmen etwas anbieten können, das hilft. Entsprechend hoch waren in den vergangenen Jahrzehnten die Forschungsinvestitionen, viele Milliarden haben klinische Studien zur Therapie der Alzheimer-­Demenz verschlungen.

Mehr als 25 Medikamente wurden zuletzt an Menschen auf Wirksamkeit geprüft – ohne Erfolg.

Wirksame Therapien in zehn Jahren?

Lecanemab könnte nun Anstoß zur Entwicklung von weiteren Arzneien geben, die in Kombination mit Lecanemab oder anderen künftigen Mitteln das Fortschreiten von Alzheimer noch wirksamer verlangsamen, schätzt Oliver ­Peters von der Charité Berlin. Der Professor für klinische Altersforschung ist mit seinen Patientinnen und Patienten an zahlreichen Alzheimer-Studien beteiligt. „Meine Hoffnung ist, dass wir hier in zehn Jahren wirksame Therapieansätze haben, mit denen sich der Verlauf der Krankheit noch länger hinauszögern lässt.“

Beschleunigte US-Zulassung, Zulassung für Europa läuft

In der Gegenwart muss der erste und einzige verfügbare Wirkstoff aber zunächst den Segen der Behörden erhalten. In den USA hat die Arzneimittelaufsicht Lecanemab bereits im Januar eine beschleunigte Zulassung erteilt. In Europa prüft die Europä­ische Arzneimittel-Agentur seit Anfang des Jahres die Zulassung, meist dauert es ein Jahr bis zur Entscheidung.

Wie viel genau Lecanemab in Deutschland kosten würde, steht noch nicht fest. In den USA kalkulieren die Hersteller jährlich 26 500 US-Dollar, also rund 25 000 Euro. Dazu kommen Kosten für die nötigen Untersuchungen, insbesondere die Bildgebung, und für medizinische Betreuung.

Behandlung in spezialisierten Ambulanzen

„Wenn wir von 20 000 Behandelten ausgehen, kommt da eine stattliche Summe zusammen“, sagt Teipel. Allein für das Medikament wären es 500 Millionen Euro pro Jahr. Es wird zudem nicht für alle, die für eine Therapie infrage kommen, einfach sein, sie auch zu erhalten.

In der hausärztlichen Praxis sieht Teipel keine Kapazität für die zeit- und betreuungsintensive Behandlung, da das Medikament alle zwei Wochen per Infusion in die Vene verabreicht werden muss. Außerdem sind zur Kontrolle regelmäßige Bildgebungen des Gehirns nötig. „Ich denke, dass die Versorgung mit Lecanemab in spezialisierten Gedächtnisambulanzen stattfinden wird.“

Von diesen Ambulanzen gibt es in Deutschland derzeit gut 170, die meisten davon in den westlichen Bundesländern. Sie sind zugleich die Anlaufstellen für eine frühe Diagnose, die Voraussetzung der Lecanemab-Therapie ist. Die Alzheimer-­Diagnostik ist derzeit recht aufwendig, der Hausärztin oder dem Hausarzt fehlen dafür noch die Instrumente.

„Wir werden in einigen Jahren Blutmarker zur Früherkennung von Alzheimer haben“, sagt Teipel. Digitalisierte Gedächtnistests könnten die hausärztlichen Praxen dann zusätzlich unterstützen, Verdachtsfälle auf Alzheimer gezielt zu erkennen und zu Spezialistinnen und Spezialisten zu überweisen.

Wirkstoff muss noch besser werden

„Ein anlassloses Screening der älteren Bevölkerung halte ich derzeit aber auf keinen Fall für sinnvoll“, betont der Experte für klinische Demenzforschung. Dazu sei die Wirkung von Lecanemab, sollte es in Europa zugelassen werden, doch zu gering. „Eine systematische Suche nach Erkrankten wird erst dann einen Wert haben, wenn wir über einen besseren Wirkstoff verfügen – oder wenn wir zusätzlich an anderen Schrauben der Ursache von Alzheimer drehen können.“

Ob es solche Arzneien oder Kombinationstherapien in zehn Jahren geben wird, wie Charité-Professor Oliver Peters sagt? Oder ob nur die Hoffnung bleibt, dass dem kleinen Fortschritt ein größerer folgt? Beantworten kann das derzeit niemand.

Stefan Teipel hält es in der Zwischenzeit für wichtig, aufmerksam zu bleiben. „Alle Erkrankten, die nach einer Zulassung in Europa den neuen Wirkstoff erhalten, sollten im Rahmen von Studien genau beobachtet werden“, sagt der Arzt. Erst dann könne man sicher sagen, ob das viele Geld nicht unter Umständen besser einzusetzen wäre – in der Versorgung der stetig wachsenden Zahl von Erkrankten und ihrer Angehörigen.

Drei Ursachen für Alzheimer

Eigentlich schien die Sache lange Zeit klar: Eiweißablagerungen außerhalb der Nervenzellen, die typischen „Amyloid-Plaques“, schieben den Verfall des Gehirns bei Alzheimer an. Auch in der Medikamentenentwicklung setzte sich die Amyloidhypothese durch.

Viele Arzneien sind schon in Studien getestet worden. Fast alle greifen an der Plaque-Bildung an. Früh, wenn erste, noch lösliche Amyloidfasern entstehen. Oder später, wenn die Plaques schon da sind. Doch obwohl einige Mittel den Eiweißmüll reduzieren, war bislang kein Effekt auf den Krankheitsverlauf nachweisbar. „Lecanemab zeigt jetzt erstmals eine solche Wirkung“, sagt Professor Martin Korte vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig. „Dass es den Krankheitsverlauf nicht stoppt, liegt vermutlich daran, dass Alzheimer einen Dreiklang von Ur­sachen hat.“ Amyloid gehört nach Ansicht des Neurobiologen dazu. Eiweißklumpen im Inneren der Nervenzellen spielen eine Rolle. Entscheidend könnte aber ein dritter Mechanismus sein.

„Wir haben Belege dafür, dass Entzündungen des Nervensystems an der Alzheimer-Demenz beteiligt sind“, so Korte. Arzneien gegen diese Prozesse sind in Entwicklung. „Das Gute ist, dass jeder schon jetzt etwas gegen Entzündungen tun und sein Alzheimerrisiko senken kann.“ Bewegung sei wegen ihrer antientzündlichen Effekte ein gutes Mittel der Prävention.

Verschiedene Therapieansätze gegen Alzheimer

Therapieansatz 1: Gegen den Eiweißmüll im Gehirn

Viele Wirkstoffe zielen auf die „Amyloid-Kaskade“: Sie beginnt mit einem normalen Eiweiß der Nervenzelle. Bei Alzheimer entstehen daraus kleinere Stücke, die verklumpen und typische, unlösliche „Plaques“ bilden. Manche Arzneien sollen die Scheren blockieren, die das normale Eiweiß zerkleinern. Andere sollen die Beläge auflösen. Lecanemab bindet noch lösliche Klumpen, die toxisch sein könnten – deshalb wirkt das Medikament vermutlich.

Therapieansatz 2: Gegen Entzündungen im Nervengewebe

Immunzellen im Gehirn bekämpfen Infektionen, räumen defekte Eiweiße und Zellreste ab und sorgen dafür, dass die Verknüpfungen zwischen Nervenzellen intakt bleiben. Es gibt mittlerweile deut­liche Hinweise, dass eine dauerhafte Aktivierung dieser Immunzellen an der Entstehung von Alz­heimer beteiligt ist. Auch gegen diese „Neuro­in­flammation“ werden Wirkstoffe gesucht.

Therapieansatz 3: Gegen Eiweißmüll innerhalb der Nervenzellen

Auch in den Nervenzellen bilden sich bei Alzheimer Eiweißklumpen, die Tau-Fibrillen. Sie stören die Funktion der Nervenzellen. Einige potenzielle Wirkstoffe sollen die Bildung der Fasern verhindern oder sie auflösen.

Therapieansatz 4: Bessere Reizübertragung

Die gestörte Reizübertragung ­zwischen Nervenzellen erschwert die Gedächtnisbildung zunehmend. Antidementiva können diese Folgen von Alzheimer lindern: Sie blockieren Botenstoffe oder verhindern deren Abbau, was die Reizübertragung bessert. Den Krankheitsverlauf verzögern sie nicht.


Quellen:

  • Christopher H. van Dyck: Lecanemab in Early Alzheimer’s Disease. In: The New England Journal of medicine 05.01.2023, 388: 9-21
  • Website der Alzheimer Forschung Initiative e.V.: Gedächtnisambulanzen in Deutschland, Datenbank mit Suchfunktion. Online: https://www.alzheimer-forschung.de/... (Abgerufen am 12.04.2023)
  • Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen e. V. (DZNE): Faktenzentrale Demenz, Zahlen und Informationen zu Demenzerkrankungen. https://www.dzne.de/... (Abgerufen am 12.04.2023)
  • Eisai Co., Ltd.: Weiterführende Analysen zur Lecanemab-Studie (Englisch), Pressemitteilung des Herstellers. Online: https://www.eisai.com/... (Abgerufen am 12.04.2023)