Typ-2-Diabetes: Schuld und Vorurteil
Wie hat Ihnen denn die Schweinshaxe gemundet, die Sie mittags verdrückt haben? Und die Buttercremetorte zum Kaffee? Ach so, Sie hatten mittags nur einen Salat, und nachmittags essen Sie schon seit Jahren nichts mehr, weil das dem Blutzucker nicht guttut? Statistisch betrachtet, wäre so etwas die wahrscheinlichere Antwort von Menschen mit Typ-2-Diabetes. Dennoch vermitteln ärztliche Fachzeitschriften und auch einige Publikumszeitschriften den Lesern ein anderes Bild.
Wenn dort von Typ-2-Diabetes die Rede ist, findet sich fast zwangsläufig ein Foto eines Menschen im Unterhemd, der sich eine 3000-Kalorien-Mahlzeit einverleibt oder auf der Couch sitzt und Chips futtert. Altersmäßig liegen diese Beispiele für ungesunden Lebensstil bei etwa Mitte 40. Das Problem an diesen Bildern: Sie vermitteln ein völlig verzerrtes Bild. Und dieses Zerrbild kann auch in den Köpfen mancher Ärzte hängen bleiben.
Das zumindest befürchtet Professor Dr. Andreas Fritsche, Diabetologe und Inhaber des Lehrstuhls für Ernährungsmedizin und Prävention an der Universität Tübingen. "Vorurteile und Schuldzuweisungen im Kopf des behandelnden Arztes verschlechtern den Erfolg der Therapie", betont der Experte. Zudem geben die stereotypen Bilder die Realität nicht wieder.
Das Leiden der Älteren
Die besten Daten zum Thema Diabetes gibt es vom Berliner Robert Koch-Institut (RKI) in Form der Diabetes-Surveillance 2019. Diese Studie erfasst etwa Daten zu Menschen mit Typ-2-Diabetes und dazu, wie häufig Diabetes-Risikofaktoren unter den Personen vorkommen, die noch einen gesunden Zuckerstoffwechsel haben. Das Ergebnis: Diabetiker liegen, was Gewicht, Bewegungsmangel und ungesunde Ernährung angeht, gar nicht so weit von der Normalbevölkerung entfernt.
Das ist einerseits nicht schön, weil es bedeutet, dass zu viele Menschen in Deutschland ungesund leben. Doch es zeigt auch, dass Schuldzuweisungen von Nichtbetroffenen fehl am Platz sind. Bis zu einem Alter von etwa 60 Jahren scheint der Körper die ungesunde Lebensweise zu verzeihen, dann gehen die Zahlen nach oben. Das heißt: Die meisten Typ-2-Diabetiker sind deutlich älter als die dicken Mittvierziger, die in der Arztzeitung zu sehen sind. Die Stoffwechselkrankheit betrifft vor allem Personen jenseits der 70. Zwischen 40 und 50 ist nur einer von 20 erkrankt.
Das Zweite, was auffällt, wenn man die Daten der Gesamtbevölkerung mit etwas älteren Daten zu Typ-2-Diabetes vergleicht: Massives Übergewicht tritt bei Diabetikern sogar eher seltener auf. 23 Prozent der deutschen Bevölkerung weisen einen BMI von über 30 auf — bei einem Menschen von 1,70 Meter Größe entspricht das knapp 87 Kilo. Bei der Untersuchung von Diabetikern im Jahr 2010 durch das RKI lag der Anteil lediglich bei 20 Prozent.
Den größten Unterschied zwischen Menschen mit Diabetes und Stoffwechselgesunden sieht man bei der körperlichen Aktivität. Hier schneiden die Patienten bedeutend schlechter ab als Gesunde.
Warum ist es einen Text wert, wenn Fachzeitschriften ihre Artikel zum Typ-2-Diabetes realitätsfern bebildern? Weil das Vorurteile schürt vom uneinsichtigen Patienten, der aufgrund seiner Lebensweise an der Krankheit selbst schuld ist.
Lähmende Schuldgefühle
Solche inneren Bilder haben Auswirkungen darauf, wie Ärzte mit ihren Patienten umgehen, sagt auch Psychologe Dr. Jens Förster, der sich seit Jahrzehnten mit den Auswirkungen von Diskriminierung beschäftigt. "Solche Zuschreibungen bringen dem Patienten nichts außer Schuldgefühlen", weiß der Experte. "Gerade wenn man älter ist, festigen sie die Haltung: Jetzt ist das Kind im Brunnen, jetzt brauche ich auch nichts mehr zu ändern."
Und das ist fatal, denn ein besserer Lebensstil kann bei Diabetes Typ 2 viel bewirken. "Wer als Arzt Vorurteile im Kopf hat, verbietet zudem seinen Patienten mehr und droht Strafen an. Das ist kontraproduktiv", ergänzt Fritsche. Anregungen, wie man sein Leben in kleinen Schritten ändern könnte, kommen dann zu kurz. "Natürlich gibt es Menschen, die massiv übergewichtig sind, sich kaum bewegen und schon in jungen Jahren Diabetes bekommen. Aber sie leben oft in einem schwierigen sozialen Umfeld, erleben Stress, der wiederum ungesundes Verhalten fördert."
Selbstbewusst für sich eintreten
Da wäre es ideal, wenn sich jeder Patient von einem verständnisvollen, motivierenden Arzt behandeln ließe. Was aber, wenn man stattdessen mit Schuldzuweisungen konfrontiert wird? Försters Tipp: "Sagen Sie klar, wie dieses Etikettieren auf Sie wirkt; dass es Sie traurig macht und dass Sie sich nicht wertgeschätzt und gehört fühlen." Ärzte seien gelegentlich selbst im Stress und änderten ihre Haltung, wenn sie eine selbstbewusste Reaktion erführen, meint der Experte.