Logo der Apotheken Umschau

Sie spritzen heimlich Insulin. Oder erfinden eine Geschichte, weshalb sie dringend etwas essen oder trinken müssen, wenn sich eine Unterzuckerung anbahnt: Manchen Menschen fällt es nicht leicht, offen mit dem Diabetes umzugehen. Gründe dafür gibt es viele, weiß Adrian Grimshaw. Er ist Fachpsychologe Diabetes (DDG) am Herz- und Diabeteszentrum Nordrhein-Westfalen in Bad Oeynhausen. Immer wieder begegnen ihm Patienten, die ihre Erkrankung lieber geheim halten: „Da gibt es etwa junge Menschen mit Typ-1-Diabetes, die sein wollen wie alle anderen und versuchen, ihren Diabetes so gut es geht vor Freunden zu verbergen.“

Beschimpft als Junkie

Tatsache ist: Unsere Gesellschaft hat im Umgang mit chronischen Erkrankungen wie Diabetes häufiger ihre Schwierigkeiten. Oft wird erwartet, dass wir alle funktionieren — etwa im Beruf. „Da möchten viele weder Zweifel an ihrer Leistungsfähigkeit aufkommen lassen noch auf ihre Erkrankung reduziert werden“, erklärt Grimshaw. Zudem sind Menschen mit Diabetes immer wieder mit Vorurteilen konfrontiert, bekommen etwa zu hören, sie seien selbst schuld an ihrer Er­krankung.

„Ich habe Angst, dass man mir den Diabetes vorhält“, Doreen V., 39, zweifacher Schwangerschaftsdiabetes

„Ich habe Angst, dass man mir den Diabetes vorhält“, Doreen V., 39, zweifacher Schwangerschaftsdiabetes

Aber auch persönliche Erlebnisse können eine Rolle spielen: Gerade beim Insulinspritzen machen Menschen mit Diabetes häufiger schlechte Erfahrungen, berichtet Adrian Grimshaw. Auch das hat mit dem Unwissen anderer zu tun: „Ich habe schon Patienten gehabt, die als Junkie beschimpft worden sind.“ Andere belastet es etwa, wenn sie ständig Diskussionen ausgesetzt sind, ob sie etwas Bestimmtes essen dürfen. Auch das kann dazu führen, dass sie sich immer mehr zurückhalten.

Gleichzeitig gibt es Situationen, in denen Zurückhaltung durchaus sinnvoll sein kann. Zum Beispiel beim Dating, meint Grim­shaw: „Wenn ich gerade auf Partnersuche bin und mein Gegenüber noch gar nicht kenne, sind wahrscheinlich einfach erst einmal andere Dinge wichtiger.“ Oder auf der Suche nach einem neuen Job: Im Vorstellungsgespräch sind gezielte Fragen nach der Erkrankung sogar verboten.

Wo Nichtwissen schadet

Trotzdem ist es am Arbeitsplatz, in der Familie oder im Freundeskreis von Vorteil, wenn zumindest ein paar Menschen eingeweiht sind. „Wenn niemand weiß, dass ich Diabetes habe, dann kann mir zum Beispiel bei einer Unterzuckerung auch nur verzögert geholfen werden“, erklärt Adrian Grimshaw.

„Ich gehe mit allem ganz offen um“, Svenja K., 31, Diabetes Typ 1

„Ich gehe mit allem ganz offen um“, Svenja K., 31, Diabetes Typ 1

Das permanente Verstecken der Erkrankung koste zudem viel Energie und sorge für unangenehme Gefühle. Soziale Kontakte können leiden und die psychische Belastung könne die Stoffwechselsituation verschlechtern, warnt Psychologe Grimshaw: „Wenn meine eigene Gesundheit darunter leidet, dass ich meinen Diabetes verstecke, sollte ich etwas ändern.“ Der Experte rät Betroffenen, Beratungsangebote zu nutzen — etwa bei einer DDG-zertifizierten Diabetesberatung, dem Diabetologen oder bei psychologischem Fachpersonal. In der Regel haben solche Experten schon mit vielen Patienten gesprochen, die ähnliche Schwierigkeiten hatten, und können unterstützen.

Hilfe aus dem Netz

Es kann zudem helfen, sich in Internetforen auszutauschen. Das geht auch anonym. „Dort kann man herausfinden, wie andere Menschen mit Diabetes mit dem Thema umgehen, welche Erfahrungen sie gemacht haben“, sagt Grimshaw. So lässt sich ein Gefühl dafür bekommen, wie sich mehr Offenheit im eigenen Umfeld anfühlen könnte.

Angehörige, die bemerken, dass ihr Partner, ihre Freundin oder ihr Verwandter sich in bestimmten Situationen schwertut, dürfen natürlich ihre Unterstützung anbieten, so Grimshaw. Sie sollten dies aber nicht aufzwingen oder ungefragt Ratschläge erteilen. Das führe meist zu Streit und Diskussionen. Am Ende muss jeder seinen eigenen Umgang mit dem Diabetes finden und entscheiden, was er preisgeben möchte und was nicht. Was zählt, ist, niemandem zu schaden. Auch nicht sich selbst.


Quellen:

  • Liu NF et al.: Stigma in People With Type 1 or Type 2 Diabetes. In: Clinial Diabetes 01.01.2017, 35-1: 27-34
  • Puhl RM et al.: Weight Stigma and Diabetes Stigma: Implications for Weight-Related Health Behaviors in Adults With Type 2 Diabetes. In: Clinical Diabetes 01.01.2022, 40-1: 51-61