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Herr Krauthausen, Sie haben oft gesagt, Sie wollen nie Berufsbehinderter werden. Jetzt sind Sie es. Zufrieden?

Ich habe mich dran gewöhnt. Aber ich wünschte, es gäbe mehr Berufsbehinderte neben mir. Viel lieber würde ich im Hintergrund bleiben. Zugleich werfen mir andere behinderte Menschen vor, ich würde zu allem etwas sagen.

Fällt Ihnen Schweigen schwer?

Immer leichter. Ich habe ja auch alles schon hundertmal gesagt.

Was zum Beispiel?

Ob meine Behinderung wehtut, ob man mir die Hand geben kann, wie ich Sex habe. Ich sehe da ein Muster: Menschen glauben, sie zeigten mit solchen Fragen Interesse. Dabei übertreten sie Intimitätsgrenzen. Die Antworten kann man übrigens alle googeln.

Welche Frage wäre Ihnen lieber?

Sie könnten fragen, wo es in den nächsten Jahren hingehen soll und warum meiner Meinung nach so wenig passiert in Sachen Inklusion.

Welche wollen Sie nie mehr hören?

„Wie weit sind wir mit der Inklusion?“

Welchen Satz haben Sie nie gesagt?

„Ich wünschte, ich wäre nicht behindert.“

Das haben Sie nie gesagt?

Nein. Ich möchte vermutlich so gerne laufen wie Sie fliegen: als nette, aber nicht lebensbeherrschende Erfahrung.

Bei Ihrer Geburt hatten Sie 19 Knochenbrüche, die Ärztinnen und Ärzte sprachen von einer Lebenserwartung von zwei Tagen.

Ich war als Baby öfter in Krankenhäusern. Aber ich hatte keine kaputte Kindheit.

Wie sind Sie aufgewachsen?

Meine Eltern haben mich mehr oder weniger zufällig in einer Integrations-Kita in Berlin untergebracht, zu der auch eine Schule gehörte. Erst danach wurde mir klar, wie einzigartig das war für die damalige Zeit. Eigentlich bis heute.

Jemand sagte damals zu Ihnen: Entweder man nimmt als Behinderter sein Leben in die Hand und kämpft oder man gibt alles aus der Hand. Gab es diesen einen Moment der Entscheidung?

Mich traf zumindest kein Geistesblitz, wo ich spürte: Jetzt will ich alles anzünden.

Was wollten Sie denn anzünden?

Situationsabhängig: Gestern war’s die Bahn, letzte Woche das Verkehrsministerium. Natürlich meine ich das symbolisch. Ich würde nie Menschen gefährden.

Was macht Sie wütend?

Es gibt viele Mikro-Aggressionen. Ein Beispiel: Warum habe ich mich als Jugendlicher medial nie repräsentiert gefühlt? Es sind immer nicht behinderte Menschen, die zu wissen glauben, wie es als behinderter Mensch so ist. Und entweder sollen wir dann die schlimme Schicksalsgeschichte erzählen oder die vom Superkrüppel. Es gibt kein Dazwischen. Die meisten von uns sind aber dazwischen: weder Opfer noch Held.

Ist das nicht ein bisschen sehr schwarz-weiß?

Schauen Sie ins Sozialamt oder ins Sozialministerium, auf alle Wohlfahrtsorganisationen: Die werden geführt von nicht behinderten Menschen.

… aber doch von Betroffenen beraten.

Würden Sie wollen, dass Frauenhäuser von Männern geführt werden? Es gibt seit Jahrzehnten in der Behindertenbewegung den Satz „Nichts über uns ohne uns“. Alle Themen sollten mit behinderten Menschen besprochen werden.

Sie reden viel von Mustern – dass Sie Ihre Behinderung lange negierten, war auch eines?

Ich wollte der coolste Behinderte sein.

Warum?

Ich glaubte lange, ich müsse mich unter Nichtbehinderten nur lange genug beweisen. Ich mied Kontakt zu behinderten Menschen, wollte nur Nichtbehinderte daten. Ich sah darin den Jackpot, die ultimative Inklusion.

Und das war falsch?

Vermutlich falsch und richtig zugleich. Aber ein krasses, mir selbst auferlegtes Dogma, für das es auch einen Fachbegriff gibt: internalisierter Ableismus.

Eine gegen sich selbst gerichtete Behindertenfeindlichkeit.

Genau. Ich habe viele Jahre meines Lebens cooler getan, als ich sein musste: „Ach, ihr habt keine behindertengerechte Toilette? Egal, mein Problem – nicht eures.“ Nach meinem Studium bin ich noch mal sehr in die Tiefe gegangen.

Was haben Sie da entdeckt?

Zunächst mal eine Demut, dass viele der Eindrücke, die ich gewonnen hatte, nicht meine genialen Erkenntnisse waren.

Waren Sie in Psychotherapie?

Nein. Das ist wieder ein Muster: dass man bei Behinderungen immer davon ausgeht, die Person muss einen psychischen Knacks haben. Schon früher wollten alle, dass ich eine Therapie mache. Mit dem Schulpsychologen verschwor ich mich dann gegen alle anderen. Er sah keine große Problematik bei mir, das hat mich mit ihm versöhnt.

Sie beschreiben sich als „lebensfroh, aber manchmal ein bisschen drüber“. Was bedeutet das?

Ich habe viele Flausen im Kopf. Ich habe mehr Spaß als Trauer im Leben. Ich wache meist mit einem Witz im Kopf auf.

Welcher war das heute?

Zwei Zahnstocher gehen im Wald spazieren. Plötzlich kommt ein Igel vorbei. Sagt ein Zahnstocher zum anderen: „Ich wusste gar nicht, dass hier ein Bus fährt.“

Okay, der ist gut.

Nicht wahr? Meine Freundin ist ein Morgenmuffel, die findet mich nicht so lustig.

Sie sind jetzt 43. Ist das alt?

Für jemanden mit zwei Tagen Lebenserwartung ganz sicher. Ernsthaft: Ich freue mich auf meine Zukunft. Ich stehe morgens auf, weil ich Spaß habe, so ist das einfach.

Ich behaupte, dass behinderte Menschen die Einzigen neben Geflüchteten sind, die mit Kostenargumenten ihrer Rechte beraubt werden – auf gute Bildung, auf Arbeit, auf Reisen.

Obwohl Sie sich über so vieles ärgern?

Na ja, das System müsste man neu aufbauen. Wir haben genug Aufklärungsbroschüren verteilt, nette Werbespots gedreht, Plakate geklebt. Ich behaupte, dass behinderte Menschen die Einzigen neben Geflüchteten sind, die mit Kostenargumenten ihrer Rechte beraubt werden – auf gute Bildung, auf Arbeit, auf Reisen.

Die Barrieren im Kopf sind nicht weg?

Zumindest nicht bei jenen, die glauben, dass Behinderte an Orten wie Förderschulen, in Behindertenwerkstätten und Wohnheimen besser aufgehoben sind, weil sie dort geschützt sind. In Wahrheit schützen wir so die Gesellschaft davor, sich mit dem Thema Behinderung und Vielfalt auseinanderzusetzen. Wir verpassen eine Menge voneinander, wenn wir Menschen aussortieren!

Wann fühlen Sie sich am wenigsten behindert?

Wenn mein Alltag so funktioniert, wie ich ihn geplant habe. Würde es jetzt regnen, könnte ich den Regenschirm nicht halten oder schnell ins Taxi springen wie Sie.

Wobei wünschen Sie sich Hilfe?

Die Zeit des Wünschens ist vorbei. Mir geht es darum, die Machtverhältnisse umzudrehen. Lassen Sie uns doch zum Beispiel sagen: „Auch Menschen ohne Behinderung haben ein Recht darauf, mit Menschen mit Behinderung zusammenzuleben“, und nicht umgekehrt. Wie hört und fühlt sich das an?

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