Was ältere Menschen in Kriegen und Krisenregionen brauchen
HelpAge Deutschland ist die einzige deutsche Nichtregierungsorganisation, die sich in der Entwicklungszusammenarbeit und humanitären Hilfe auf die Bedarfe und Bedürfnisse älterer Menschen spezialisiert hat. Seit 2005 setzt sich HelpAge für sie ein – vor allem in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen. Ein Interview mit Geschäftsführerin Sonja Birnbaum.
Frau Birnbaum, hat eine Organisation wie HelpAge eine Art „Ziel“ in ungewissen und krisenreichen Zeiten wie diesen?
Sonja Birnbaum: Unser Ziel ist die Vision, dass ältere Menschen gesund, würdevoll und selbstbestimmt leben können. Damit meinen wir nicht nur die Älteren heute, sondern auch die von morgen. Bis 2050 wird weltweit jeder fünfte Mensch älter als 60 sein. Darauf müssen wir uns vorbereiten.
Welche Bedürfnisse und Bedarfe haben speziell ältere Menschen in Krisenregionen?
Birnbaum: Es fängt mit ganz alltäglichen Dingen an: Ältere Menschen brauchen eine andere Nahrung, mehr Vitamin D und E als junge. Oder auch Nahrung, die besser zu kauen ist. Wir statten auch mit Windeln oder Einlagen aus und haben altersbedingte Krankheiten im Blick. Ältere Menschen sind häufiger von chronischen Krankheiten betroffen. Sie brauchen daher einen anderen und vor allem regelmäßigen Zugang zu Gesundheitsversorgung – zum Beispiel Diabetes-Medikamente oder Blutdrucksenker. Wir decken diese unterschiedlichen Bedarfe, damit ältere Menschen in herausfordernden Krisenregionen soweit wie möglich würdevoller und selbstbestimmter leben können.
Was machen Sie noch?
Birnbaum: Wir bemühen uns auch, den Zugang zu Hilfsleistungen herzustellen oder aufrecht zu erhalten. Wir haben es jetzt im Gaza-Konflikt oft gesehen, dass Hilfspakete abgeworfen wurden – ebenso bei Überschwemmungen. Zu solchen Maßnahmen haben Ältere oft keinen Zugang, weil sie nicht mobil genug sind. Da setzen wir mit mobiler Pflege, Versorgung und telefonischer Betreuung an. Wo nötig – etwa in der Ukraine – unterstützen wir zusätzlich mit Maßnahmen, um Wohnungen und Häuser winterfest zu machen und schauen, dass die Menschen genügend warme Decken und Kleidung haben.
Welche Rolle spielt eingeschränkte Mobilität im Zusammenhang mit Flucht?
Birnbaum: Immobile Menschen sind auf der Flucht oder Suche nach Schutz benachteiligt. Wenn ein Alarm losgeht in der Ukraine, dann haben die Menschen oft nur wenige Minuten Zeit, um Schutzräume aufzusuchen. Wer da nicht oder nur schlecht gehen kann, kommt da gar nicht hin. Einige Ältere verharren daher einfach in ihren Häusern und Wohnungen in der Hoffnung, dass die Rakete oder Drohne dort nicht einschlägt.
Kann man da überhaupt Abhilfe schaffen?
Birnbaum: Wir sorgen uns darum, sichere Orte, sogenannte community safe spaces zu errichten, wo auch Ältere leicht Schutz finden. Aber so einfach ist das nicht. Umfragen kurz nach Beginn des russischen Angriffskriegs haben gezeigt, dass die älteren Menschen in der Ukraine – genau wie im sicheren Deutschland – ungern ihr langjähriges Zuhause verlassen wollen. Sie möchten lieber in ihrer gewohnten Umgebung bleiben, als evakuiert zu werden. Auch das Bedürfnis, dort zu bleiben, wo beispielsweise die Frau ihren Mann begraben hat oder wo das gemeinsame Haus gebaut wurde, müssen wir ernst nehmen.
Wie sieht es mit der psychischen Verfassung älterer Menschen in Krisenregionen aus?
Birnbaum: Die psychische Belastung ist enorm hoch. Besonders Hochbetagte, die nun schon den zweiten Krieg mitmachen, erfahren Retraumatisierungen. Hier unterstützen wir durch psychosoziale Betreuung. Aber auch junge Menschen, die dem Krieg entkommen sind, zerbrechen teils daran, zu wissen, dass sie ihre Großeltern im Osten der Ukraine zurücklassen mussten.
HelpAge International ist schon seit 2014, vor allem im Osten der Ukraine, tätig. Hat sich der Schwerpunkt Ihrer Arbeit seit 2022 nochmal verändert?
Birnbaum: Ja. Die Gruppe der Hilfebedürftigen ist ab 2022 größer geworden, weil ja im Grunde nun die Gesamtbevölkerung betroffen ist. Auch die großen Fluchtbewegungen waren neu. Wir haben dann auch unser Engagement in Moldau und anfangs auch in Polen verstärkt. 30 Prozent der 3,7 Millionen Binnengeflüchteten sind über 60 Jahre alt und mussten wiederholte Umsiedelungen erleben. Ein besorgniserregender Trend.
Spielt eine mögliche EU-Mitgliedschaft eine Rolle für Ihre Arbeit in der Ukraine?
Birnbaum: Defintiv. Wir sprechen ja viel über den Wiederaufbau dieser Gesellschaft und wissen, dass 25 Prozent der Menschen dort älter als 60 sind. Daher wäre es spannend zu sehen, wie wir eine EU-Mitgliedschaft nutzen könnten, um starke soziale Sicherungssysteme, die wir in der EU kennen, auch in der Ukraine aufzubauen und umzusetzen. So etwa Rentenleistungen oder Pflegeversicherungen. Ältere Menschen könnten noch besser am gesellschaftlichen Zusammenleben teilnehmen, ihre Rechte nutzen und würdevoller leben.