Selbstbestimmter Tod: Wer darf entscheiden, wann ich sterbe?
Es mag eine Gnade sein, nicht zu wissen, wie es einmal mit uns zu Ende gehen wird. Enden wird unser Leben. So oder so. Sanft und leise im Schlaf, nach langer Krankheit, unerwartet und mit einem lauten Knall, pflegebedürftig und auf die Hilfe von Außenstehenden angewiesen. Das ist das Letzte, was Käthe Nebel will. Die 92- Jährige Oldenburgerin möchte selbstbestimmt sterben – und plant, Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen. Doch das ist gar nicht so einfach.
Sterbehilfe: Aktuelle Rechtslage
Bis 2015 stand die sogenannte geschäftsmäßige Sterbehilfe in Deutschland unter Strafe. Organisationen war es verboten, schwerstkranken Menschen bei der Selbsttötung zu helfen. 2020 kippte das Bundesverfassungsgericht dieses Verbot. „Das allgemeine Persönlichkeitsrecht umfasst als Ausdruck persönlicher Autonomie ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben“, begründete der damalige Präsident des Gerichts, Andreas Voßkuhle, das Urteil.
Nicht nur Schwerstkranke haben demnach das Recht, sich beim Suizid helfen zu lassen. Dieses Recht ist grundsätzlich und gilt auch für Gesunde. Gleichzeitig gaben die Richter dem Gesetzgeber den Auftrag, eine Gesetzesgrundlage zu entwickeln, um die Sterbehilfe in Teilen neu zu regeln. Nun liegen drei Entwürfe auf dem Tisch, über die das Parlament in diesem Jahr abstimmen soll.
Pflichtberatung sinnvoll?
Ein Sonntag im Februar. Der Arbeitskreis Selbstbestimmtes Sterben Oldenburg trifft sich in Käthe Nebels Wohnzimmer. Die zierliche Dame hat Kaffee gekocht, reicht Kekse und Cracker mit Kräuterdip.
Viele der Anwesenden haben Erfahrungen mit dem Tod gemacht. Sie erzählen von der Schwester, die Demenz hatte und irgendwann einfach aufhörte zu essen. Vom Schwiegervater, der sich erhängte. Der todkranken Nachbarin, die gerne Sterbehilfe in Anspruch nehmen würde – aber in deren Familie es ein Tabu ist, darüber zu sprechen. „Tabus sind dazu da, Menschen zu unterdrücken“, ist Käthe Nebel überzeugt.
„Die nun vorliegenden Gesetzesentwürfe zur Neuregelung der Sterbehilfe lehnen wir ab“, sagt auch Angelika Salzburg-Reige, Sprecherin des Arbeitskreises. Als besonders empörend empfindet sie die Pflichtberatung, die alle Entwürfe vorsehen. „Da warten Sie dann wahrscheinlich ein Jahr lang auf einen Termin beim Psychiater, der Ihnen bescheinigen soll, dass Sie noch bei Sinnen sind“, glaubt Nebel. Unbegründet sind diese Sorgen nicht.
Auch diejenigen, die diese Beratungen durchführen sollen, sind nicht überzeugt. So zum Beispiel Professorin Birgit Wagner, Expertin für Suizid-Prävention an der Medical School Berlin. „Wir haben innerhalb unserer Berufsgruppe noch gar keinen Konsens, anhand welcher Kriterien wir überprüfen, ob ein Mensch seinen Wunsch zu sterben aus freien Stücken trifft“, so Wagner.
Zudem gibt es zu wenige Psychiaterinnen und Psychotherapeuten, die hier Gutachten schreiben. Die Wartezeiten auf einen Termin könnten Monate betragen. Schwerstkranke leben mit der Sorge, ihre Krankheit führe schneller zu einem qualvollen Ende als ihr Antrag auf Beihilfe zum Suizid zum Erfolg.
Gehen, wenn man es für richtig hält
So zart Käthe Nebel wirkt, so kämpferisch gibt sie sich. Es war diese Empörung, die sie gemeinsam mit ihrem Mitstreiter Habbo Schütz, ebenfalls Mitglied im Arbeitskreis Selbstbestimmtes Sterben, im vergangen Jahr auf den Schlossplatz in Oldenburg trieb. Sie hängten sich Pappschilder um, auf denen „Ja zur Sterbehilfe“ und „Mein Ende gehört mir“ geschrieben stand.
Für Nebel ist es gewissermaßen das letzte Tabu, gegen das sie in ihrem langen Leben anarbeitet. „Ich bin im zweiten Weltkrieg aufgewachsen, wir hatten den Tod immer vor Augen“, sagt sie und streift ihren Pullover glatt. Als der Krieg endete, war sie 14 und lebte mit ihrer Mutter in einem kleinen Dorf in der Nähe von Frankfurt (Oder), das heute zu Polen gehört. „Die Soldaten mordeten und vergewaltigten“, erzählt sie. „Zum Glück war ich damals spindeldürr. Die Männer hatten kein Interesse an mir.“ Stattdessen nahmen sie ihre Mutter. Manchmal passierte es gleich neben ihr.
Nach dem Krieg erlebte Käthe Nebel kollektives Schweigen. Nicht nur, was die Erlebnisse an der Front anging. „Meine Mutter und ich haben Hitler angebetet und erst spät gemerkt, was für ein verbrecherisches System das war“, sagt sie. „Ich konnte lange Zeit nicht darüber sprechen.“ Und dann tat sie es doch.
Später im Leben hat sie immer wieder Tabus gebrochen. Und sie hat sich engagiert – im Naturschutz, in der Sexualaufklärung. Inzwischen schwinden ihre Kräfte, die Augen lassen nach. Besonders, dass sie nicht mehr gut lesen kann, macht Käthe Nebel zu schaffen. Und auch ihr Geist lasse nach: „Ich leide nicht, aber zufrieden bin ich mit meinem Leben nicht mehr.“ Sie habe das Gefühl, bald gehen zu wollen: „Dann, wenn ich es für richtig halte.“
Sterben, ohne zu leiden
Dass es gut ist, wenn Menschen friedlich sterben können, erlebte Käthe Nebel auch, als sie für einen ambulanten Hospizdienst ehrenamtlich Menschen beim Sterben begleitete. Besonders der Fall einer an Blasenkrebs erkrankten Frau in einer Klinik ist ihr in Erinnerung geblieben. Trotz der Schmerzmittel habe diese höllische Qualen durchlitten.
Das darf eigentlich nicht passieren. In der Palliativmedizin gibt es Möglichkeiten, um Menschen am Lebensende mit Schmerzmitteln zu versorgen, Luftnot zu nehmen, zu sedieren, damit sie nicht leiden und friedvoll sterben. Zu diesen Möglichkeiten wissen die Menschen viel zu wenig, ist Heiner Melching, Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin, überzeugt.
Er lehnt die aktuellen Gesetzesentwürfe ebenfalls ab. Aus seiner Sicht vernachlässigen sie das, was vor der Entscheidung, sterben zu wollen, steht: die Beziehung zu Ärztinnen und Therapeuten. „In der Palliativmedizin sehen wir, dass viele Menschen Angst vor dem haben, was auf sie zukommt. Diese Angst können wir in den Gesprächen oft nehmen“, so Melching. Seiner Ansicht nach spielen die Entwürfe vor allem Sterbehilfe-Organisationen in die Hände: „Sie verfügen über eigene Psychiater und können die nötige Infrastruktur für die Beratungen schnell aufbauen.“
Die letzte Frage: Wie das eigene Leben beenden?
Doch auch diese Organisationen kritisieren die Entwürfe. Der Verein Dignitas lehnt eine Beratungspflicht ab. Für Sozialarbeiterin Sabine Laube von Dignitas gehen die Gesetzesentwürfe an dem vorbei, was sich die Menschen wünschen – „ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben“. Auf ihr eigenes Sterben ist Käthe Nebel vorbereitet. Der Bestatter ist bezahlt, eine Patientenverfügung angelegt und ein Generalbevollmächtigter ernannt, der sich um alles kümmern soll.
Nur eines ist noch unklar: Wie sie sich das Leben nehmen wird. Auf das Medikament Natrium-Pentobarbital, das einer Freundin von Käthe Nebel in der Schweiz einen sanften Tod ermöglichte, haben in Deutschland aktuell nicht einmal Schwerstkranke Anspruch. Ob sich das mit der Neuregelung der Sterbehilfe ändern wird, steht noch nicht fest. „Wir fordern eine Freigabe dieses Medikaments“, sagt Angelika Salzburg-Reige, Sprecherin des Arbeitskreises Selbstbestimmtes Sterben Oldenburg.
Käthe Nebel spürt, dass die Zeit allmählich gekommen ist. Wie sie sterben will, das weiß sie noch nicht. Sie hat sich noch nicht entschieden. Sie hat Informationen über verschiedene Methoden gesammelt, – aber die, die ihr den sanftesten Abschied aus diesem Leben ermöglichen würde, bleibt ihr bisher verwährt – das bereits erwähnte Medikament Natrium-Pentobarbital. Käthe Nebel hat den Plan gefasst, sich bei ihrem Tod von einem Kamerateam begleiten zu lassen. „Ich will ein Zeichen setzen“, sagt sie. Das letzte Tabu. Käthe Nebel will es brechen.
Quellen:
- juk: Sterbehilfe, Ein neuer Anlauf für ein Gesetz. In: Ärztezeitung 25.01.2022, 1: 10