Logo der Apotheken Umschau

Prof. Dr. Liane Wörner ist Strafrechtsprofessorin und Direktorin des Zentrums Human Data Society an der Universität Konstanz. Sie ist Teil der von der Bundesregierung eingesetzten „Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin“. Dort koordinierte sie zehn Monate lange die Arbeitsgruppe zum Schwangerschaftsabbruch. Am 15. April 2024 hat die Kommission ihre Ergebnisse vorgestellt. Im Interview spricht sie über den Weg der Kommission bis zu ihrer Empfehlung und die nächsten Schritte.

Frau Wörner, Sie waren Mitglied einer von der Bundesregierung eingesetzten Kommission aus Expertinnen und Experten, die unter anderem prüfen sollte, wie Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland künftig geregelt werden könnten. Wie dringend muss sich in Deutschland etwas ändern?

Liane Wörner: Wir sehen einen dringenden Handlungsbedarf. Deutschland hinkt zum Beispiel mit Blick auf das Völker- und Europarecht hinterher, wenn es jetzt keine Anpassungen vornimmt. Nach ausführlicher Prüfung hält die Kommission einen Schwangerschaftsabbruch in den ersten zwölf Wochen für rechtmäßig, also legal.

Laut aktueller Rechtslage in Paragraph 218a Absatz eins im Strafgesetzbuch ist dieser Schwangerschaftsabbruch bis zur zwölften Woche aber rechtswidrig, also keine Gesundheitsleistung. Es wird nur nicht bestraft, wer vorab eine Pflichtberatung wahrnimmt, eine dreitägige Wartefrist einhält und den Abbruch von einer Ärztin oder Arzt durchführen lässt.

Rechtmäßig sind Abbrüche in Deutschland derzeit nur aus medizinischen Gründen und bis zur zwölften Woche aus kriminologischen Gründen nach einem Sexualdelikt.

Wie sind Sie zu dem Ergebnis der Rechtmäßigkeit gekommen?

Wörner: Im deutschen Recht ist seit jeher umstritten, wie mit dem Schutz des ungeborenen Lebens vor der Geburt umzugehen ist. Bis heute gibt es keinen Konsens. Wir haben uns als Kommission intensiv damit auseinandergesetzt und sind der Auffassung: Das Leben vor der Geburt ist schützenswert.

Wir haben aber auch festgestellt, dass die Rechte der Frau auf ihre Selbstbestimmung und auf ihre Fortpflanzungsfreiheit als Menschenrechte ein hohes Gewicht haben. Diese beiden Seiten haben wir miteinander abgewogen. Daraus ist ein Drei-Phasen-Modell entstanden, in dem die Zumutbarkeit der Fortsetzung der Schwangerschaft für die Frau ein entscheidendes Kriterium ist.

Bei einer ungewollten Schwangerschaft kann der Staat seine Schutzpflicht für das ungeborene Leben nicht vollständig der Frau aufbürden

Was bedeutet das?

Wörner: Zu Beginn geht mit der Schwangerschaft, die vor der Frau liegt, für die weiteren neun Monate und die Zeit danach eine derartige Umwälzung einher, dass von der Frau ziemlich wenig verlangt werden kann. Bei einer ungewollten Schwangerschaft kann der Staat seine Schutzpflicht für das ungeborene Leben nicht vollständig der Frau aufbürden. Deshalb muss der frühe Schwangerschaftsabbruch bis zur zwölften Woche legal sein.

Und nach der zwölften Woche?

Prof. Dr. Liane Wörner

Prof. Dr. Liane Wörner

Wörner: Je weiter die Schwangerschaft fortschreitet, desto kürzer ist die verbleibende Schwangerschaftsdauer. Umso mehr ist der Frau zuzumuten, die restliche Schwangerschaft bis zur Geburt fortzusetzen.

Außerdem: Je früher ein Schwangerschaftsabbruch durchgeführt wird, desto weniger Komplikationen gibt es. In dieser zweiten Phase von der zwöften bis zur 22. Woche hat der Gesetzgeber laut unserem Bericht einen weiten Gestaltungsspielraum: Er kann einen Abbruch der Schwangerschaft legalisieren oder eben nicht. Beides ist aus Sicht der Kommission möglich.

In der dritten Phase ab der 23. Woche, wenn der Fötus selbstständig lebensfähig ist, ist ein Abbruch aber grundsätzlich rechtswidrig, es sei denn, es liegt ein medizinischer Grund vor. Das ist das Recht, das jetzt schon gilt. Für diese dritte Phase haben wir aber trotzdem noch Handlungsbedarf festgestellt.

Welchen?

Wörner: Bei einem Schwangerschaftsabbruch in der dritten Phase wird eine Frühgeburt herbeigeführt. Dabei kann das Ungeborene überleben. Um dies zu verhindern, führt man oft den sogenannten Fetozid durch. Dieses Verfahren ist sehr umstritten. Wann man einen Fetozid durchführt oder eine palliative Geburt einleitet, wie man genau damit umgeht, und wann man die Schwangerschaft abbricht oder fortsetzt, dafür fehlen in Deutschland Leitlinien. Die Ärztinnen und Ärzte werden damit alleingelassen. Deshalb sollte der Gesetzgeber dringend entsprechende Leitlinien diskutieren und auf den Weg bringen.

Sie sagen, Sie haben auch Lücken im Strafrecht entdeckt.

Wörner: Ja, das geltende Strafrecht schützt die körperliche Unversehrtheit des Embryos und Fetus vor der Geburt überhaupt nicht, sondern nur die der Schwangeren. Das heißt, eine Körperverletzung an der Schwangeren ist heute nur eine Körperverletzung an der Schwangeren, nicht am Ungeborenen.

Welche konkreten Folgen hätte es für ungewollt Schwangere, wenn ein Abbruch bis zur zwölften Woche legal wäre?

Wörner: Es würde der Stigmatisierung von Schwangerschaftsabbrüchen entgegenwirken. Betroffene könnten offen darüber nachdenken, ob sie eine Schwangerschaft schaffen können oder nicht. Sie könnten sich offen an Beratungsstellen wenden und müssten nicht befürchten, dort von sogenannten Lebensrechtlern belästigt zu werden.

Es würde auch bedeuten: Der Schwangerschaftsabbruch ist ein medizinischer Eingriff. Er müsste in die Gesundheitsleistungen für die Frau integriert werden. Inwiefern die Krankenkassen diesen dann bezahlen, müsste noch diskutiert werden. Auch die Arbeit von Ärztinnen und Ärzten würde es erleichtern, weil sie sich per se rechtmäßig verhalten würden.

Heute müssen sich ungewollt Schwangere vor einem Abbruch in den ersten zwölf Wochen beraten lassen. Was hält die Kommission von dieser Regelung?

Wörner: Wir haben auch mit den Beratungsstellen gesprochen und dabei festgestellt, dass die Beratung sehr wichtig ist. Niemand bricht eine Schwangerschaft gerne ab, bei vielen kommt es zu Konflikten. Beratung funktioniert aber am besten, wenn sie freiwillig ist. Wir sehen aber die Schwierigkeit, dass man mit einer rein freiwilligen Beratung bestimmte Gruppen nicht in gleicher Weise erreicht. Hier wäre eine ärztliche Verordnung denkbar. Darüber muss der Gesetzgeber entscheiden.

Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), Justizminister Marco Buschmann (FDP) und Familienministerin Lisa Paus (Grüne) haben auf Ihren Bericht zurückhaltend reagiert, sie wollen die Empfehlungen prüfen. Sind Sie enttäuscht?

Wörner: Diese Reaktion war zu erwarten. Der Bericht war zwar eine Woche zuvor schon durchgesickert, aber die Kommission und auch die Ministerien durften sich nicht dazu äußern. Nur die Opposition hat sich geäußert – mit dem völlig absurden Vorwurf, die Kommission sei nicht unabhängig. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler arbeiten per se unabhängig. Erst nach der offiziellen Vorstellung des Berichts fand ein ausführliches Gespräch mit den Ministern und der Ministerin statt. Das war sehr wertschätzend.

Wie geht es jetzt weiter?

Wörner: Die Kommission steht weiterhin für den Austausch und für Fragen zur Verfügung. Herr Buschmann hat angekündigt, dass er eine mögliche Gesetzesänderung nicht zu einer Ampelfrage machen möchte, sondern dies in einem offenen Prozess in den Bundestag geben möchte. Das begrüße ich sehr. Herr Lauterbach hat betont, dass man weiterhin sachlich über das Thema diskutieren müsse.

Unionsfraktionsführer Thorsten Frei hat allerdings schon damit gedroht, vor dem Bundesverfassungsgericht zu klagen, sollte es zu einer Gesetzesänderung kommen.

Wörner: Die Möglichkeit, dass sich das Bundesverfassungsgericht wie schon 1993 erneut mit der Frage beschäftigt, besteht. Die Situation heute ist aber eine vollständig andere. Auch die völker- und europarechtliche Ausgangslage ist heute eine andere. Die WHO oder die Istanbul-Konvention haben sich deutlich für die Menschenrechte und die Nichtdiskriminierung von Frauen ausgesprochen.

Die Rechtswidrigkeit eines frühen Schwangerschaftsabbruchs schränkt die reproduktiven Rechte von Frauen ein und führt zu Abhängigkeit und Diskriminierung. Das Bundesverfassungsgericht muss sich völkerrechts- und europarechtsfreundlich verhalten und tut das in seiner ständigen Rechtsprechung auch.

Wir haben alle Bundestagsfraktionen eingeladen; SPD, Bündnis90/Die Grünen, FDP und CDU sind gekommen

Ihre Arbeitsgruppe der Kommission bestand aus neun Expertinnen aus den Bereichen Ethik, Medizin, Sozial- und Gesundheitswissenschaften sowie der Rechtswissenschaft. Wie lief die Zusammenarbeit?

Wörner: Es war nicht so, dass wir alle sofort einer Meinung waren. Ganz im Gegenteil: Als wir uns zu Beginn vorgestellt haben, hätten unsere Perspektiven und Auffassungen nicht weiter auseinander liegen können. Aber wir waren bereit, unabhängig, ergebnisoffen und umfassend zu prüfen – und das haben wir getan.

Wir haben uns gefragt: Wo liegen die Bedarfe und wo liegen die Probleme? Wir haben alle Bundestagsfraktionen eingeladen; SPD, Bündnis90/Die Grünen, FDP und CDU sind gekommen. Wir haben über 60 Verbände eingeladen, von Beratungseinrichtungen bis hin zu kirchlichen Vertretern. Wir haben von 39 Organisationen Stellungnahmen bekommen, die wir anschließend noch einmal eingeladen haben.

Was hat der Austausch gebracht?

Wörner: Wir haben gesehen, dass alle Beteiligten ein großes Interesse daran haben, Frauen in vulnerablen Lebenslagen zu schützen, vor Konflikten zu bewahren und bei der Konfliktbewältigung zu stützen. Polarisierung schadet nur und vergiftet die erforderliche sachliche Diskussion. Ein Schwangerschaftskonflikt ist eine hochkomplexe, vielschichtige Ausnahmesituation. Sie ist für niemanden leicht. Und alle Schutzaspekte müssen in Einklang gebracht werden.