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Wie das nervt! Gefühlt stundenlang beim Arzt sitzen. Oder in der U-Bahn, die schon wieder in der Röhre steckenbleibt. Das Warten spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Viel schlimmer ist das Gefühl, nichts tun zu können. "Jede Art von Handlungsunfähigkeit macht uns Menschen Angst", erklärt Dr. Gunther Schmidt, Facharzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Heidelberg. Das Gefühl können wir nicht verhindern. Aber wir können es als wertvolle Information über Bedürfnisse nach Schutz und Handlungsfähigkeit achten und nutzen.

Plötzlich ohne Kontrolle

Der Verlust des Arbeitsplatzes, der Tod eines geliebten Menschen, die neue Diagnose Diabetes: Das Gefühl, die Kontrolle über das Leben verloren zu haben, den Mächten hilflos ausgeliefert zu sein, kann immer mal wieder auftreten. Plötzlich muss man ein Stück des gewohnten Lebens über Bord werfen, und das auf Dauer. Das Gefühl der Ohnmacht steigt, bange Fragen kommen auf. Wird das Umstellen der Essens- und Bewegungsroutine wirklich die Zuckerwerte in Balance halten? Kann man noch normal leben trotz täglichem Messen, Schlucken oder Spritzen von Medikamenten, häufigen Arztbesuchen — und wird man überhaupt alt werden?

Damit einen solche Sorgen nicht aus der Bahn werfen, braucht es eine  gute Portion von dem, was Psychologen "Selbstwirksamkeit" nennen: darauf  vertrauen, dass man Dinge auch nach Fehlschlägen wieder in den Griff  bekommt. Wie viel Stehaufmännchen-Potenzial in uns steckt, hat weniger mit den Genen als mit Erfahrungen zu tun. Wer als Kind für die ersten Schritte, die ersten Lernerfolge gelobt wurde, aber gleichzeitig das Gefühl vermittelt bekam, auch bei "Versagen" ein wertvoller Mensch zu sein, tut sich leichter. "Das gilt auch für Kinder mit Diabetes und ist entscheidend für die Akzeptanz der Krankheit", betont Dr. Schmidt.

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Egal, ob die Familie bei den Diabetes-Vorgaben mitmacht ("Wir essen  alle das Gleiche") oder Unterschiede erklärt ("Du bekommst jetzt keinen  Kuchen, aber dafür etwas anderes"): Wichtig sei, das Kind als Familienmitglied wertzuschätzen, das speziell gegenüber den Geschwistern  zwar keine Extrawürste braucht, aber eben auch nicht zurückgesetzt  wird.

Tröstlich: Auch wer als Kind und junger Erwachsener nur wenig  selbstwirksame Erfolgserlebnisse gesammelt hat, kann aus Krisen gestärkt  hervorgehen. Dazu gehört, sie erst mal anzunehmen, sie weder zu  negieren und im alten Trott weiterzumachen noch sich tapfer dauernd am  Riemen zu reißen.

Die Sehnsuchtslösung

Beispiel Diabetes: Egal, wie lange man ihn schon hat, der Wunsch, ihn loszuwerden, bleibt. Gut so, sagt Experte Dr. Schmidt. "Auch wenn das unrealistisch scheint, ergibt es Sinn, diesen Wunsch als Sehnsuchtslösung unbedingt beizubehalten und sich liebevoll dafür zu trösten, dass man dieser Entwicklung ausgesetzt ist." Schließlich komme der Wunsch aus dem Herzen, aus dem unwillkürlichen Bereich, mit dem die Vernunft kooperieren sollte und so zu einer ganzheitlichen Lösung kommen kann. Danach folgt das, was Schmidt die "zweitbeste Lösung" nennt: "Die Alternative, die in meiner Macht liegt."

Um sie zu finden, ist es hilfreich, sich drei Fragen vorzunehmen. Erstens: Was kann ich verändern? Zweitens: Was kann ich (noch) nicht verändern — bzw. was oder wen brauche ich, damit es doch geht? Und drittens: Was kann ich gar nicht verändern?

Gerade bei den Fragen eins und zwei ist es entscheidend, sich nicht zu viel vorzunehmen. Viel besser sind kleine Schritte, die man nach und nach in den Alltag integriert. Für den neuen Lebensstil kann das bedeuten: die Gemüseportion auf dem Teller vergrößern; täglich einen kleinen Salat einplanen; langsamer essen und bewusst genießen; zweimal in der Woche einen großen Spaziergang machen; sich einen Fitnesspartner suchen; sich nach dem Messen, nach Arztbesuchen eine kleine Auszeit gönnen. Und viele andere Ideen.

Ehrenrunde? Na und!

Auch kleine Schritte bedeuten manchmal große Überwindung. Nicht immer ist man gleich drauf, nicht immer bekommt man das hin. Auch eigentlich stabile Zuckerwerte reagieren manchmal unvorhersehbar. Jetzt aufgeben oder verzweifeln? Viel mehr bringt es, sich selbst zu verzeihen. "Ich nenne solche scheinbaren Rückfälle lieber etwas humorvoller ‚Ehrenrunden‘", meint Psychotherapeut Schmidt. Sie können nach seiner Erfahrung sogar sehr hilfreich sein. Vor allem wenn man sie als Einladung dafür nutzt, das Heft wieder in die Hand zu nehmen. Und, ruhig auch mit professioneller Hilfe, genauer hinschaut, was hinter dem vermeintlichen Scheitern steckt.

Meistens sind es Bedürfnisse, denen wir auf den Grund gehen sollten. Ohne groß nachzudenken, eine Tafel Schokolade verschlungen nach einem anstrengenden Tag? Dann geht es eher um Stress — und den kann man auch anders abbauen. Etwa mit einer flotten Runde um den Block oder einem Entspannungsbad. Vielleicht braucht man dann gar keine Schokolade mehr.

Vertrauen — und zwar sich selbst

Voraussetzung dafür, dass wir handlungsfähig bleiben, ist, dass wir uns richtig einschätzen. "Wir müssen uns auf kluge Weise selbst gerecht werden", nennt das Professor Wilhelm Vossenkuhl von der Philosophischen Fakultät der Universität München: uns also möglichst weder unter- noch überfordern. Wer als untrainierter Läufer mit 70 Jahren einen Marathon anstrebt, kann nicht wirklich auf Erfolg hoffen. Zweimal in der Woche zehn Minuten spazieren gehen ist besser als nichts, aber gesundheitlich bringt einen das nicht viel weiter. Es geht also um die Balance — und da kann man laut Vossenkuhl beruhigt auf sich selbst vertrauen: "Grundsätzlich wissen wir ja im Erwachsenenalter, was uns guttut und was nicht. Habe ich ein Glas zu viel getrunken, werde ich mich nicht mehr hinters Steuer setzen."

Ein Gedanke, der sich auch in Krisenzeiten bewährt: Statt sich zu verkrampfen, weil man das Leben vermeintlich nicht mehr im Griff hat, ist es wesentlich zielführender, durch-zuatmen und zu denken: "Ich habe Vertrauen in mich, auch eine schwierige Zeit durchzustehen."

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