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Herr Dr. Lütje, in Medien und so­zialen Netzwerken berichten viele Mütter von einer traumatischen Geburt. Nehmen diese Fälle zu?

Das denke ich nicht. Aber die Sensibilität für das Thema hat zugenommen. Mittlerweile haben viele Frauen den Mut gefunden, öffentlich über ihr Geburtserlebnis zu sprechen und darüber, was im Kreißsaal nicht gut gelaufen ist. Gewalt in der Geburtshilfe wurde von Organisationen und in den Medien in den letzten Jahren verstärkt thematisiert. Man muss jedoch sehr vorsichtig mit dem Begriff Traumatisierung umgehen.

Wie meinen Sie das?

Es gibt ein soziales und ein medizi­nisches Verständnis des Begriffs. Viele Frauen sagen, sie seien von der Ge­burt traumatisiert, sind es nach streng medizinischen Kriterien aber nicht. Sie meinen zwar etwas in der Richtung, aufgrund ihrer Symptome würden sie aber nicht die Diagnose einer posttraumatischen Be­lastungsstörung bekommen. Und: Das, was Frauen als Trauma empfinden, ist sehr individuell. Die Band­breite reicht von ,Ich bin massiv beeindruckt von der Geburt‘ bis hin zu den wirklich Trauma­tisierten. Auch bei letzteren gibt es eine Riesenspanne. Ein Trauma kann von innen heraus entstehen, durch die Geburt an sich, oder von außen, etwa durch die Art, wie eine Frau unter der Geburt begleitet wurde.

Das heißt, Frauen nehmen das Geburtserleben generell völlig unterschiedlich wahr?

Absolut. Es gibt Frauen, die sagen, sie hätten die Geburt als nicht enden wollenden Orgasmus erlebt. Andere fanden den Schmerz einfach nur grauenvoll.

Der nicht enden wollende Orgasmus dürfte die Ausnahme sein?

Wie gesagt, das ist das eine Extrem, die Bandbreite ist riesig. Erfahrungsgemäß ist der übermäßige Teil der Frauen nach einer Geburt tatsächlich erst mal sehr beeindruckt – verständlicherweise. ­Viele haben zudem körperliche Pro­bleme, sind aufgeregt und empfinden Gefühle zwischen Erfüllung und Angst. Wenn ich die Frauen bei der Entlassung frage, ob sie sich vorstellen können, noch mal ein Kind zu bekommen, sagen die meisten: Nein.

Bei durchschnittlich 1,54 Kindern pro Frau in Deutschland scheinen die meisten nicht dabei zu bleiben.

Fast alle kommen wieder. Und das ist gut so. Ein Geburtserlebnis sollte nie der Grund sein, auf weitere Kinder zu verzichten. Es gibt in meinen Augen kein Ereignis, das so gewaltig ist, tendenziell so traumatisierend sein kann und gleichzeitig so ein unfassbares Ausheilpotenzial hat. Eigentlich lässt sich erst nach einem halben Jahr, wenn sich eine Frau von der Geburt komplett erholt hat, sagen, ob sie traumatisiert ist. Manche brauchen schon früher professionelle Hilfe. Zum Glück sind aber nur wenige nachhaltig traumatisiert.

Wie erkennen Ärzte und ­Hebammen diese Frauen?

Durch gutes Beobachten. Die wenigsten zeigen klassische Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung. Es gibt Frauen, die typische Auffällig­­keiten wie Schlaflosigkeit und Depressionen haben oder die die Bilder nicht mehr aus dem Kopf bekommen. Aber ein Geburtstrauma kann auch ganz anders daherkommen. Ein Beispiel: Eine Frau legt eine Blitzgeburt hin, ohne Schmerzmittel, ohne Geburtsverletzung, sie hat nicht einmal das Gesicht verzogen. Das Kreißsaalteam jubelt über diesen unkomplizierten Verlauf. In Wirklichkeit ist die Frau aber in eine Schockstarre geraten. Der Geburtsprozess war für sie so schlimm, dass sie ihren Unterkör­per nicht mehr gespürt, keine Schmerzen empfunden und die Geburt hat über sich ergehen lassen. Um so etwas zu erkennen, braucht es viel Erfahrung.

Wodurch entstehen Traumatisierungen im Kreißsaal noch?

Das ist sehr vielschichtig. Tatsächlich spielt immer die Lebensgeschichte eine Rolle, die Grundeinstellung. Wie wurde in der Familie über das Thema Geburt gesprochen? Was hat die Frau schon an Krisen erlebt? Vielleicht hat sie sogar sexualisierte Gewalt erfahren? Diese Frauen sind anfällig für alles, was mit ihrem Körper unter der Geburt passiert. Erfahrungen von äußerer Gewalt können aufleben. Ein sehr großer Teil der Frauen ist auch durch das geburtshelfende System traumatisiert, sei es, dass sie sich nicht ernst genommen gefühlt haben oder es zu Interventionen kam, die sie nicht nachvollziehen konnten. Interessanterweise gibt es tatsächlich eine sehr subtile Form von Gewalt: die Katastrophisierung der Geburt. Es wird ein Ausnahmezustand ausgelobt, der gar nicht besteht und darin endet, dass Notfallszenarien inszeniert werden. Sie glauben gar nicht, wie viele Frauen zur Planung der nächsten Geburt vor mir sitzen und sagen, sie hätten zuvor einen Notkaiserschnitt gehabt.

Und es war kein Notkaiserschnitt?

In den meisten Fällen nicht. Es waren Kaiserschnitte, die im Geburtsverlauf vielleicht sinnvoll waren, die man den Frauen aber als Notkaiserschnitt verkauft hat. Vielleicht, um Diskussionen zu umgehen. Aber allein das Wort ,Not‘ macht schon furchtbare Angst.

Wie helfen Sie Frauen, die sich vor der nächsten Geburt fürchten?

Durch genaues Zuhören und intensive Gespräche. Ich lasse mir die Unter­­lagen der letzten Geburt kommen, dann versuchen wir herauszufinden, was hinter der Angst steckt. Zu wissen, dass es sich zum Beispiel gar nicht um einen Notkaiserschnitt gehandelt hat, entlastet schon. Die Nachbesprechung der letzten Geburt ist extrem wichtig. Wir erarbeiten: Warum sind Dinge nicht gut gelaufen? Warum wurde ein Kaiserschnitt gemacht? Wenn eine Frau Erklärungen für das bekommt, was im Kreißsaal passiert ist, hat sie eine Chance, damit abzuschließen. Für die Planung der nächsten Geburt fokussieren wir uns auf die Frage: Was darf sich auf keinen Fall wiederholen? Da stricken wir konkrete Fahrpläne.

Wie können die aussehen?

Das kommt auf den Einzelfall an. Wenn bei der vorherigen Geburt der unbeherrschbare Schmerz das Problem war, setzen wir alles daran, dass die Frau diesmal rechtzeitig eine PDA erhält. Hauptsache, sie kann sich auf eine natürliche Geburt einlassen. Vielen hilft es schon, wenn wir erklären, dass sie sich äußern dürfen, wenn sie sich unter der Geburt nicht wohlfühlen oder die Chemie mit der Hebamme nicht stimmt, dass sie Dinge einfordern können. Und dann gibt es Einzelfälle, auf die wir eingehen müssen: Wenn wir wissen, dass eine Frau sexuelle Gewalt erlebt hat, legen wir etwa fest, dass kein Mann bei der Geburt dabei sein wird und die Frau so selten wie möglich untersucht wird.

Wie erfahren Sie davon?

Nicht alle Schwangeren vertrauen sich uns an. Wenn Frauen sich in der Hebammensprechstunde in unserer Klinik zur Geburt anmelden, versuchen wir herauszufiltern, für welche Frauen ein psychotherapeutisches Gespräch sinnvoll wäre. Die kommen dann zu mir.

Haben Zweitgebärende mehr Angst vor der Geburt als Erstgebärende?

Ich glaube, dass das, was die meisten Zweitgebärenden haben, nicht Angst, sondern Respekt ist. Das Ge­burtser­leben von Frauen beim zweiten Kind ist fast immer besser als beim ersten Mal. Nicht, weil die zweite Geburt ­immer einfacher wäre, sondern die Erwar­tungs­haltung ist realistischer.

Müsste Geburtsvorbereitung dann nicht generell realistischer sein?

Man muss in so einem Kurs sicher nicht die schlimmstmöglichen Geburts­sze­narien an die Wand malen. Der Pla­cebo­effekt ist ja nicht zu unterschätzen: Wer mit einem positiven Gefühl in die Geburt reingeht, erlebt oft auch eine bessere Geburt. Aber: Der Geburts­verlauf ist etwas, das nicht vorhersehbar ist, die Schmerzqualität im Vorfeld ist nicht einschätzbar. Das muss auch deutlich werden. Wichtig finde ich, dass Frauen in so einem Kurs in Ihrem Urvertrauen bestärkt werden: Es gibt erst mal keinen Grund anzunehmen, dass das mit der Geburt nicht gut klappen wird.

Wegen der Corona-Pandemie sind viele Kurse ausgefallen, Frauen mussten teils ohne Partner gebären. Wie ging es Frauen damit?

Zum Glück sind viele Kliniken dazu übergegangen, das Paar als Hygiene­­einheit zu sehen und den Partner zu­zulassen. Gerade die erste Zeit der Ge­burt haben aber viele Frauen alleine verbracht. Dabei entstehen natürlich Gefühle wie Hilflosigkeit. Auch die Aussicht ohne Partner gebären zu müssen und die nicht vorhandene Geburtsvorbereitung haben sicher Ängste geschürt.

An wen können sich die Frauen wenden, wenn sie Angst vor der nächsten Geburt haben?

An ihre Hebamme oder an Ihre Frauen­ärztin. Wer da nicht weiterkommt, sollte auch den Gang zum Psycho­therapeuten nicht scheuen. Es ist auch sinnvoll, sich eine Klinik zu suchen, die Ängste psychotherapeutisch gut begleiten kann.