Risiken bei späten Frühgeborenen
Als meine jüngste Tochter auf die Welt kam, nach wochenlangem Liegen und Bangen, weinte ich vor Freude. Wir hatten 35+0 geschafft! Ich hatte sie natürlich geboren, sie wog 2740 Gramm und nuckelte Minuten nach der Geburt an meiner Brust. Ich dachte: Alles ist gut gegangen! Zwei Tage später war nichts mehr gut. Matilda und ich waren auf der Neugeborenen-Intensivstation. Sie war am Fuß verkabelt, alle drei Stunden nahmen die Schwestern Blut ab, ihre Haut war gelb und sie total schlapp und wollte nicht trinken. Als die Kinderärztin von Infusion sprach, weinte ich vor Angst und Sorge.
Corinna Lenné erlebt diese Situation häufig bei Familien mit späten Frühchen. Die Berliner Hebamme sagt: "Diese Kinder werden am Anfang fast immer überschätzt – von den Eltern und vom Personal in der Klinik." Denn nach außen wirken sie wie normale Neugeborene, bloß etwas zarter. "Aber sie sind nicht nur ein bisschen kleiner, sondern unreif und benötigen Aufmerksamkeit und Unterstützung", sagt Lenné, die sie deshalb "Babys für Fortgeschrittene" nennt.
Die meisten Frühgeborenen sind späte Frühchen
Etwa neun Prozent der Kinder kommen vor 37+0 Schwangerschaftswochen auf die Welt. Die Mehrheit davon sind späte Frühchen, also Kinder, die zwischen 34+0 und 36+6 Wochen geboren werden. Lange wurden sie behandelt wie Termingeborene. Und fast 80 Prozent der Kleinen zeigen auch keine Komplikationen. Viele haben aber Anpassungsprobleme. "Mittlerweile weiß man auch, dass späte Frühchen ein erhöhtes Risiko für dauerhafte Krankheiten haben wie auch ein höheres Risiko zu sterben", sagt Professor Christian Poets, Neonatologe an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin in Tübingen.
Risiken für Komplikationen
Das häufigste Problem ist die mangelnde Lungenreife, die sich im Atemnotsyndrom äußern kann. Ab der 25. Woche beginnt zwar die Bildung des Lipoproteins Surfactant, aber erst um den Geburtstermin ist die Lunge voll funktionstätig (siehe Grafik). Mit einem Sensor am Fuß (dem Pulsoximeter) wird bei den Kindern die Sauerstoffsättigung im Blut gemessen. Ist der Wert zu niedrig, werden Sie beim Atmen unterstützt – zum Beispiel durch künstliche Sauerstoffzufuhr oder mithilfe einer speziellen Maske.
Meine Kleine hatte zum Glück keine Atemprobleme, den Sensor musste sie trotzdem in den ersten Tagen zur Kontrolle tragen. Aber sie litt an einer Unterzuckerung. Direkt nach der Geburt hatte meine Tochter zwar eifrig Trinkversuche unternommen, danach schlief sie eigentlich nur. Sie trank so gut wie nichts – und wog nach zwei Tagen nur noch 2515 Gramm. Nicht so dramatisch, dachte ich. Auch meine anderen Töchter hatten nach der Geburt abgenommen. Aber die Kinderärztin schlug Alarm: Die Gewichtsabnahme war zwar gerade noch vertretbar, nicht aber der niedrige Blutzuckerwert.
Längere Unterzuckerungen sind gefährlich
"Frühchen sind besonders anfällig für Unterzuckerungen", erklärt Kinderarzt Poets. Denn sie haben geringere körpereigene Energiereserven, aber einen erhöhten Bedarf. Weil sie wenig braunes Fett haben, müssen sie viel Energie aufwenden, um die Körpertemperatur zu halten. Dazu kommt: Viele späte Frühchen trinken schlecht und nehmen zu wenig Energie auf. Eine längere Unterzuckerung ist jedoch schädlich für die Nervenzellen im Gehirn. "Dann bekommen die Babys Glukose zum Trinken oder als Infusion", sagt Poets.
War ich zu naiv gewesen, weil ich auf das Stillen vertraut hatte? Wie sollte es weitergehen: mit einer Infusion – wie die Ärztin andeutete – und danach Fläschchen? Ich wollte doch stillen! Die Krankenschwester versprach mir, alle Tricks auszupacken, die sie zur Stillunterstützung kennt. Doch erst gab sie Matilda etwas Säuglingsnahrung mit dem Becher. Ein fittes Kind lerne besser als ein müdes, sagte sie.
Zufüttern ist meist nötig – am besten mit Kolostrum
Späte Frühchen haben oft schwache Saug- und Schluckreflexe. Das Trinken an der Brust erschöpft die Kleinen deshalb schnell. Bis es mit dem Stillen klappt, rät Corinna Lenné zum Zufüttern – bestenfalls mit Kolostrum. "Diese Vormilch enthält viele Nährstoffe und ist optimal auf das Schwangerschaftsalter des Kindes eingestellt", so Lenné. Sie empfiehlt, das Kolostrum mit der Hand auszustreichen und mit dem Löffel, Becher oder einer Spritze zu füttern (siehe unten). "Ein paar Tropfen genügen schon, denn der Magen der Babys kann nur wenig aufnehmen. Wichtig ist, dass es möglichst oft etwas bekommt", erklärt sie. Lenné übt das Ausstreichen sogar mit Frauen, bei denen eine Frühgeburt droht. "Manche frieren die Milch ein und nehmen sie mit in die Klinik", erzählt sie.
Bloß nicht pumpen, sagten mir die Schwestern, da sonst die paar Tropfen Kolostrum verloren gehen. Alle drei Stunden also das gleiche Spiel: Ich versuchte, meine Kleine aufzuwecken und an die Brust zu bringen. Wenn sie endlich trank (oft erst nach einer halben Stunde), pikste die Schwester sie in die Ferse für den Blutzuckerwert. Nach dem Stillen fütterte ich meiner Kleinen etwas Muttermilch von der Spritze und strich noch Milch für später aus. Ganz schön stressig! Aber ich fühlte mich gut, weil ich etwas für mein Baby tun konnte. Dazwischen kuschelten wir, so viel es ging.
Kolostrum ausstreichen: So geht's
Körperkontakt bei Frühchen sehr wichtig
Auch die Experten raten zu viel Körperkontakt. "Der beste Platz für ein spätes Frühchen ist auf dem nackten Bauch der Mutter oder des Vaters", sagt Corinna Lenné. Viel Hautkontakt schützt vor Auskühlung und fördert das Stillen, zudem beugt er einer Unterzuckerung sowie einer Gelbsucht vor. "Dabei sollte stets auf freie Atemwege geachtet werden", sagt Poets.
Auch meine Tochter wurde immer gelber und schlapper. Das lag an dem Bilirubin, das sich bei Frühchen in der unreifen Leber vermehrt ansammelt. Die große Gefahr ist, dass das Bilirubin durch die noch offene Blut-Hirn-Schranke tritt und sich im Gehirn ablagert. Die Schwestern kontrollierten daher ab dem dritten Tag die Blutwerte regelmäßig. Am vierten Tag musste meine Kleine deshalb zur Phototherapie. Mit einer Augenbinde lag Matilda unter dem weißen Licht. Sie schien sich wohlzufühlen in der Wärme; ich konnte den Anblick kaum ertragen. Aber es half. Der Wert sank, sie war wacher und trank besser.
Entwicklung bei Frühchen langfristig verzögert
Laut Untersuchungen ist das erhöhte Risiko der späten Frühchen nicht auf die Zeit nach der Geburt beschränkt. So haben sie auch mit zwei Jahren ein erhöhtes Risiko für Entwicklungsverzögerungen und später mehr Probleme in der Schule. Poets erklärt dies so: "Das Hirnvolumen verdreifacht sich in den letzten Schwangerschaftswochen. Durch die zu frühe Geburt kann die Entwicklung des Gehirns gestört werden." Deshalb wünscht er sich, dass Babys so lange wie möglich im Bauch der Mutter bleiben dürfen, und plädiert dafür, geplante Kaiserschnitte erst ab der 39. Woche anzusetzen. Dadurch würde die Zahl der späten Frühgeburten deutlich sinken. Viele sind aber auch nicht vermeidbar. Dann sei es wichtig, die Kinder gut zu überwachen und zu unterstützen.
Nach zehn turbulenten Tagen in der Klinik durfte ich mit Matilda nach Hause. Sie war noch gelb, aber das Stillen klappte. Trotzdem war ich unsicher. Trinkt sie genug? Wird sie wieder gelber? Immer wieder stellte ich diese Fragen. Meine Hebamme kam täglich und war für mich da. Mein Mann lieh eine Babywaage aus, damit ich sehen konnte, wie gut die Kleine zunahm. Die Gelbsucht verschwand bald, aber ich brauchte lange, um im Alltag mit Baby anzukommen. Denn auch ein bisschen zu früh war einfach zu früh.