Baby und Familie

Es ist ja wirklich praktisch: Seinen Daumen hat man immer dabei. Und man kennt ihn bestens, schließlich ließ sich schon im Bauch der Mama prima daran lutschen. Warum nicht ihn in den Mund stecken, wenn man müde ist, statt zu warten, dass man ­einen Schnuller bekommt?

"Daumenlutschen erfüllt das natür­liche Bedürfnis des Babys, an etwas zu saugen", sagt Holger Simonszent, Diplom-Psychologe mit eigener Praxis in Gauting. Während das Saugen an Brust oder Flasche dazu dient, den Hunger zu stillen, hilft das Nuckeln am Daumen dem Kind, Stress zu verarbeiten und in den Schlaf zu finden. Untersuchungen zeigen zum Beispiel, dass Babys, die gestresst sind, mehr nuckeln.

Holger Simonszent ist Diplom-Psychologe in Gauting

Holger Simonszent ist Diplom-Psychologe in Gauting

Bis zum zweiten Lebensjahr unbedenklich

In den ersten beiden Lebensjahren ­können Eltern noch gelassen bleiben, wenn sie einen kleinen Daumenlutscher haben. "Das Saugbedürfnis lässt im ­­Laufe der Entwicklung des Kindes automatisch nach, an­dere Dinge werden interessanter", erklärt Simonszent. "Vor allem entwickelt ein Kind mit zunehmendem ­Alter neue Strategien, sich selbst zu beruhigen, Spannungen abzubauen oder mit Stress umzugehen." Es kann ­etwa belas­tende Dinge zunehmend besser benennen und nachvollziehen.

Meist gelingt dieser Prozess Kindern einfach von selbst, wenn sie in einer liebe­vollen und sicheren Umgebung aufwachsen. Drei Jahre sieht der Psychologe als kritisches Alter, dann sollte ein Kind nicht mehr nuckeln. Wandert jedoch auch nach dem dritten Geburtstag noch regelmäßig der Daumen in den Mund, hat sich aus dem Saugbedürfnis eine Angewohnheit entwickelt: Langeweile, Wut, Trotz oder Angst ­etwa können dann der Nuckel-Anlass sein. Höchste Zeit, dem Daumen­lutschen entgegenzuwirken. Denn Kinder brauchen andere Strategien zur Gefühlskontrolle, sonst laufen sie Gefahr, dass ihre Persönlichkeitsentwicklung leidet.

Zahnfehlstellungen durch das Nuckeln am Finger

Zudem hinterlässt lang anhaltendes und ausdauerndes Daumenlutschen sichtbare ­Spuren an Zähnen und Kiefer: schiefe Vorderzähne etwa oder ­einen offenen Biss, der das einfache Abbeißen erschwert oder sogar unmöglich macht. "Außerdem werden die Kiefer in ihrem Wachstum behindert, und die Zungen­motorik wird gestört. Bestimmte ­Laute können Betroffene dann nicht korrekt aussprechen", erklärt ­Bastian Widders­hoven, Kinderzahnarzt in Oldenburg. Bei 40 Prozent ­aller Kinder und Jugendlichen, die kieferortho­pädisch behandelt werden müssen, sei Daumen­lutschen der Grund für die Therapie.

Bastian Widdershoven arbeitet als Kinderzahnarzt in Oldenburg

Bastian Widdershoven arbeitet als Kinderzahnarzt in Oldenburg

Welche Behandlung ein Kind dann braucht – ob ­eine einfache Mundvorhofplatte oder eine komplizierte kiefer­orthopädische Apparatur –, wann damit begonnen wird und wie lange sie dauert, hängt von den Schäden an Zähnen und Kiefer ab. "Wichtigste Voraussetzung für ­eine Therapie ist, dass das Kind das Daumen­lutschen beendet hat", sagt Widders­hoven. Und das gestaltet sich nicht so einfach, wenn das Daumennuckeln Gewohnheit ist.

Daumenlutschen abgewöhnen: So klappt es

Also, wie abgewöhnen? Einen Schnuller können Eltern verschwinden lassen, den Daumen nicht. Sie können ihn zwar dem Nachwuchs aus dem Mund ziehen, zu einem Machtkampf sollte man es aber nicht kommen lassen. Was jetzt hilft: das Kind und sein Verhalten genau beobachten. Warum nuckelt es gerade? Welches Bedürfnis erfüllt es sich damit? "Ist es traurig, trösten Sie es. Nehmen Sie es in den Arm, und geben Sie ihm die Geborgenheit, die es in dem Moment sucht", sagt Holger Simonszent.

Steckt sich das Kleine aus Lange­weile den Daumen in den Mund, braucht es eine interessante Beschäftigung. Was auf keinen Fall zu kurz kommen darf: ausführliches Loben, wenn das Kind in einer Stresssituation mal nicht am Daumen lutscht. "Wer gereizt aufs Nuckeln reagiert, provoziert einen Teufelskreis: Die Kritik führt beim Kind zu noch mehr Stress, es lutscht noch mehr, weil es nicht anders damit umgehen kann", erklärt der Psychologe.

Alternative zum Daumen: Schnuller oder Schmusetuch

Dass ein Baby seinen Daumen statt eines Schnullers oder einer anderen Nuckel­hilfe nimmt, können Eltern nicht ganz verhindern. "Ich würde es aber versuchen und ihm zum Beispiel Schnuller oder Schmuse­tuch anbieten", rät Simonszent. Auch Kinderzahnarzt Widders­hoven plädiert für ­eine Alternative: "Anatomisch geformte ­Schnuller verursachen zwar auch Probleme, die sind aufgrund der Schnuller­form aber gleichmäßiger und somit leichter zu behandeln."