Prof. Dr. Allmendinger, wie beurteilen Sie die letzten Empfehlungen der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina im April zur Lockerung der Ausgangsbeschränkungen?

Mich freut zunächst, dass Wissenschaftler vieler Fachrichtungen zu Rate gezogen wurden, nachdem in den ersten Wochen vor allem Virologen und Ärzte zur Pandemie befragt wurden. So wichtig es ist, dass wir diesen Experten gut zuhören, müssen wir auch Fachleute aus anderen Bereichen einbeziehen. Denn wir wollen verstehen, wie die Folgen des Lockdowns für unsere Gesellschaft aussehen werden.

Ganz folgerichtig waren in der Arbeitsgruppe der Leopoldina Naturwissenschaften, Psychologie, Politikwissenschaft, Bildungsforschung, Rechtsphilosophie und Soziologie vertreten. Was ich mir gewünscht hätte, wäre, dass sich die Breite der Bevölkerung in den Empfehlungen widergespiegelt hätte.

Prof. Dr. Jutta Allmendinger ist Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung.  Seit 2007 ist die Soziologin Mitglied der Leopoldina

Prof. Dr. Jutta Allmendinger ist Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung. Seit 2007 ist die Soziologin Mitglied der Leopoldina

Zu kurz sind in meinen Augen Lockerungen für Gruppen gekommen, die besonders unter der Situation leiden. Das sind insbesondere Alleinerziehende und Familien mit jungen Kindern. Es fehlte in den Empfehlungen eine gesamtgesellschaftliche Perspektive.

Was hätte die Arbeitsgruppe anders machen können?

Ich denke, die Empfehlungen wären anders ausgefallen, wenn die Arbeitsgruppe die Breite der Bevölkerung berücksichtigt hätte. Es geht natürlich nicht darum, die Bevölkerung in der Arbeitsgruppe eins zu eins widerzuspiegeln. Natürlich nicht – das Geschlecht, die kulturelle Herkunft, das Alter engt uns Forschende ja nicht so ein, dass wir nur über unsere eigene gesellschaftliche Gruppe forschen könnten.

Aber wir wissen, dass allzu homogene Gruppen beim Blick auf die Gesellschaft blinde Flecken haben. Das gilt überall: in der Wissenschaft, in Unternehmen, in der Politik, in den Schulen. Mich stimmt nachdenklich, dass die 26 Mitglieder der Arbeitsgruppe durchschnittlich über 60 Jahre alt waren und nur zwei Frauen unter ihnen waren.

Wie viele Frauen sind Mitglied der Leopoldina?

Soweit ich weiß, waren 2018 von den 1.590 Mitgliedern der Leopoldina 195 Frauen. Also zwölf Prozent. Das klingt niederschmetternd, aber es gibt inzwischen immerhin sichtbare Bemühungen, dies zu ändern. So müssen bei jeder neuen Zuwahl mindestens so viele Frauen vorgeschlagen werden, wie es auch ihrem Anteil an den Professuren im Fachgebiet entspricht.

Und seit 2016 gibt es eine Frauenbeauftragte. Aber auch sie wird nicht zaubern können, weil die Mitgliedschaft in der Akademie bis zum 75. Lebensjahr gilt. Da nach wie vor nur jede vierte Professur von einer Frau besetzt wird, können wir uns an den Fingern ausrechnen: Es wird Jahrzehnte dauern, bis der Anteil überhaupt 25 Prozent erreicht hat. Die Junge Akademie, die von der Leopoldina mitgetragen wird, ist schon längst bei einem ausgewogenen Verhältnis der Geschlechter.

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Hat man Sie denn bei den ersten Lockerungen im April nicht um Ihre Meinung gefragt?

Nein, man hat mich nicht gefragt. Aber darum geht es gar nicht – ich bin nicht die einzige Wissenschaftlerin, die zu gesellschaftlichen Themen Auskunft geben kann. Worauf es ankommt: Warum wurden nur zwei Frauen gefragt, an den Empfehlungen der Leopoldina mitzuwirken? Warum nicht mehr jüngere Forschende? Hier sehen wir den blinden Fleck.

Bleibt denn während der Ausgangsbeschränkungen und im Homeoffice in den Familien wirklich alles an den Frauen hängen?

Ja, genau das sehen wir in unseren Daten. In der noch laufenden Online-Befragung corona-alltag.de haben die Forschenden Lena Hipp, Mareike Bünning und Stefan Munnes vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung nachweisen können: Die Mütter insgesamt, und unter ihnen noch einmal stärker die alleinerziehenden Frauen, stellen die am stärksten belastete Gruppe dar.

Sie stemmen gleichzeitig Beruf und Familienarbeit, Kinderbetreuung und Onlineschule. Und wenn sie nicht im Homeoffice sind, dann arbeiten sie oft in systemrelevanten Berufen als Pflegerinnen oder Supermarktverkäuferinnen und leisten Überstunden – und müssen abends noch den Haushalt machen

Was glauben Sie, werden die Lockerungsempfehlungen für Folgen haben?

Die Empfehlungen haben eine wichtige Diskussion angestoßen darüber, welche Prioritäten wir in diesem Land beim Umgang mit der Pandemie setzen. In der öffentlichen Diskussion ist es schnell klar geworden, dass wir eben doch Kitas und Schulen in den Blick nehmen müssen.

Kinder, junge Familien und Alleinerziehende brauchen unsere Unterstützung. In allen Bundesländern werden die Kita- und Schulbesuche, die Situation von Müttern und insbesondere von Alleinerziehenden, nun neu bewertet.

Ich begrüße das sehr, weil wir aus vielen Studien wissen, dass Nachteile, die Kinder jetzt erleiden, sich auf ihren gesamten Lebensverlauf auswirken können. Dass sich durch den Lockdown die ohnehin bestehenden sozialen Ungleichheiten in der Bildung noch weiter verstärken. Und dass der Arbeitsmarkt für Frauen schwieriger ist als der für Männer.

Was bedeutet all das für Ihre Zukunft in der Leopoldina?

Ich bin gerne und mit Überzeugung Mitglied der Leopoldina. Natürlich hoffe ich, dass sich nun der Blick auf die bestehenden Ungleichgewichte nicht nur in der Geschlechterzusammensetzung, sondern in der Diversität insgesamt geschärft hat. Und wenn ich hier einige Impulse setzen konnte, freut mich das.