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Vor drei Jahren bekam Rainer Langhans, 83, die Diagnose Prostatakrebs, unheilbar. Wie geht es dem Alt-68er und berühmten Mitglied der Kommune I in Berlin heute? Im Interview spricht Rainer Langhans über Spiritualität, das Leben in der Kommune und seine Krebsbehandlung.

Herr Langhans, Sie haben vor mehr als drei Jahren die Diagnose Prostatakrebs erhalten, ­unheilbar. Wie geht es Ihnen?

Rainer Langhans: Bestens. Der Krebs hat mich noch gesün­der gemacht. Und das ist nicht nur meine ­Einbildung. Auch die Ärzte sagen: Sie sind biologisch jünger. Alle meine Werte sind sehr gut.

Wie werden Sie behandelt?

Langhans: Ich bekomme eine palliative Behandlung, eine Hormontherapie, die das Testosteron runterfährt. Es ist eine chemische Kastra­tion. Dieser ganze Libido-Kram ist dadurch weg. Wirklich gründlich weg.

Und das finden Sie schön?

Langhans: Ja, es ist toll. Ich fühle mich so leicht. Nicht mehr so erdenschwer, so verstrickt. Was für mich auch überraschend war: Die Liebesfähigkeit, die ich mit meiner Spiritualität zu entwickeln versucht habe, ist noch mal explodiert. Ich muss aufpassen, dass ich nicht alle Leute damit überfalle. Weil ich weiß, dann komm ich in die Klapsmühle (lacht).

Für die meisten Menschen ist Krebs ein schrecklicher Schicksalsschlag. Dass er einen gesünder macht, habe ich noch nie von jemandem gehört.

Langhans: Wenn ich das sage, bekomme ich böse Briefe. Dass ich das so sehen kann, hat natürlich mit meiner Beschäftigung mit Spiritualität zu tun. Durch sie habe ich zum Glück schon ein bisschen über den Körper hi­naus­schauen dürfen – etwas Sterben üben können. Für mich war der Krebs daher ein unglaubliches Angebot: Lass den Körper immer wieder los und lebe richtig!

Das klingt ungewöhnlich.

Langhans: Und auch wieder nicht. Im Christentum gibt es: „Liebet eure Feinde“, oder den Gedanken, dass Krankheit zur wahren Gesundheit führt. Diese ist eine Art Reparaturversuch eines schlechten Lebens, der aus dem Unbewussten kommt – also, wenn man so will, von Gott. Krankheit ist ein Weg nach innen. Durch diesen Weg verstand ich auch unsere 68er-Erfahrung erst richtig.

Sie waren eines der berühmtesten Mitglieder der Kommune I in Berlin. Worum ging es dabei?

Langhans: Die Leute sahen in uns vor allem Sex, Drugs & Rock ’n’ Roll. Die Bild schrieb von Orgien und Rudelbumsen. Aber das ist eigentlich das Gegenteil von dem, was es war.

Und was war es wirklich?

Langhans: Die Kommune war eine Erfindung, um das Abendland mit seinem Endprodukt, dem Kapitalismus und Faschismus, zu überwinden. Denn dieser Faschismus unserer ­Eltern, der war natürlich auch in uns. Das wussten wir. Wir haben gesehen: Wir können die Welt da draußen nicht verändern. Das ist immer schiefgegangen, jede Revolution. Es sind wir, die sich verändern müssen. Denn wir bringen diese Welt hervor. Wir sind dann nach innen gegangen, um diesen faschistischen Kern in uns aufzu­suchen, uns gegenseitig zu spiegeln, was wir da sehen – und jenseits davon zu gehen. Da war allumfassende Liebe, da war die Welt wirklich, real.

Wie sah diese Wirklichkeit aus?

Langhans: Weil wir sie nicht kennen, hat unsere Sprache keine Worte, um das zu beschreiben. Deswegen muss man sie mit Näherungs­begriffen umkreisen – oder mit Dichtung. Eine einfache Beschreibung wäre die: Alles ist ein großes „Ja“, richtig, gut. Es fühlte sich zeitlos an: So war oder ist es immer.

Irgendwann setzte die Zeit offenbar ­wieder ein. Die Kommune zerfiel. Einige Mit­glieder machten doch wieder Revolution. Wie das?

Langhans: Wir alle waren von diesem sogenannten 68er-Gefühl völlig überwältigt. Ein Jahr lang etwa. Doch dann stürzten wir wieder aus dieser wahren Realität heraus, richtig zu leben und zu lieben. Warum? Das ist die Frage. Es war unfassbar für uns alle. Wir haben uns dann auf die Suche gemacht – ­jeder auf seine Weise. Denn wenn du mal im Paradies warst, kannst du nicht mehr in der Hölle leben. Doch soweit ich weiß, hat niemand den Weg zurückgefunden.

Für mich war der Krebs daher ein unglaubliches Angebot: Lass den Körper immer wieder los und lebe richtig!

Sie sagen, Sie hätten ihn gefunden.

Langhans: Ja, heute sage ich das. Zunächst war ich verzweifelt wie alle anderen auch. Dann fiel mir ein Buch über einen spirituellen Meister aus Indien in die Hände, Kirpal Singh. Das hat mir die Augen geöffnet für unsere 68er-Erfahrung – und vor allem, wie man wieder dorthin kommt. Ich habe mich dann auf diesen Weg gemacht, der bedeutet, aus dieser Welt langsam herauszusterben. Uschi (Obermaier, Anm. d. Red.) hat das damals nicht verstanden. Ich weiß noch, wie sie sagte: „Du willst sterben. Ich aber will leben, leben, leben!“ Ich wollte ihren Weg nicht gehen, konnte das als Autist, der ich bin, auch gar nicht.

Sie haben sich selbst die Diagnose Asperger-­Autismus gegeben. Dafür wirken Sie allerdings sehr zugänglich.

Langhans: Ja, das sagen mir viele (lacht). Kennen Sie die Serie „Young Sheldon“? Sie dreht sich um die Kindheit von Sheldon Cooper, diesem Super-Nerd aus der „Big Bang Theory“. So ging es mir als Kind. Schon mit drei, vier Jahren sagte ich: „Das sind nicht meine ­Eltern.“ Ich fühlte mich hier falsch. Fremd. Doch wenn man unter Fremde geworfen ist, muss man versuchen, ihre Sprache zu lernen, die Gesten, in denen ihre Kommunikation läuft, zu verstehen. Und so habe ich die Menschen studiert. Und das schließlich mit der Kommune überwinden können.

Sie leben seit mehr als 40 Jahren in ­einer Kommune, zusammen mit drei, ­früher fünf Frauen. Das klappt?

Langhans: Wir treffen uns täglich. Anfangs sind wir als „der Harem“, wie uns die Leute nannten, oft ins Fernsehen eingeladen worden. Damals sagten sie: „Um Gottes willen, fünf Frauen und der Pascha! Und welche ist heute Abend dran?“ Die übliche Nummer. Doch wir sind vor allem eine spirituelle Gemeinschaft. Die Frauen wohnen alle in einem Haus, aber jeder von uns hat seine Wohnung. Das scheint uns die beste Art von Kommune zu sein, weil sie nicht aufgefressen wird von dem Alltag, alles gleich machen zu müssen, wie das in Beziehungen immer das Problem ist. So können wir uns einander mehr zuwenden, uns lieben.

Sie selbst sagen, dass Sie endlich wieder dort angekommen sind, wo Sie 1968 schon einmal waren.

Langhans: So empfinde ich es. Doch fühle ich mich heute nicht so überwältigt wie damals. Sondern eher, als hätte ich mich zu dem Gefühl entwickelt. Der Krebs war ein mächtiger Schub in diese Richtung, ein Hinweis: Du musst noch mehr sterben üben, weil du bald so weit bist. Wie und wann es passiert, das liegt natürlich nicht in meiner Hand. Irgendwann wird die Hormonbehandlung wohl nicht mehr wirken. Dann gibt es noch andere Mittel. Aber: Was auch ­immer kommt – für mich ist der Krebs eine wahre Liebesbotschaft.

In seinem Buch „Nach innen“ beschreibt Rainer Langhans, warum für ihn Selbst­erforschung auch Revolution bedeutet und ein Weg aus Krisen sein kann. ­Heraus­gegeben von Christa Ritter, 2022