Geschwister: Die Pflege der Eltern aufteilen

Unsere Mutter hat Demenz. Mein Bruder und ich sind zusehends als Kümmerer gefragt – nicht nur als Kinder.
© W&B/Christina Angele bearb. Michelle Günther
„Wir helfen euch!“ Vor elf Jahren sagten mein Bruder und ich diesen Satz zu meinen Eltern, und er kam aus voller Überzeugung. Meine Mama hatte damals gerade die Diagnose Alzheimer erhalten, sehr überraschend, und wir hatten Angst vor dem, was da kommen würde. Für meinen Bruder und mich war es selbstverständlich, für unsere Mutter da zu sein und unserem Vater zu helfen. Was genau dieses Helfen bedeutet, das wussten wir nicht.
Diagnose Demenz
Meine Eltern fanden sich in ihrem neuen Alltag mit der Demenz ein, mit viel Spazierengehen und kleinen Ausflügen. Mama brauchte keine Pflege, sie war körperlich fit und die Erkrankung schritt langsam voran. Mein Papa kümmerte sich liebevoll. „Ich schaffe das schon. Ich möchte euch nicht belasten“, sagte er – und mein Bruder und ich waren froh darum. Wir wohnen mehrere Hundert Kilometer von meinen Eltern entfernt, jeder hatte in seinem Alltag mit Beruf und eigener Familie alle Hände voll zu tun.
Doch schleichend veränderten sich die Dinge. Meine Mutter vergaß immer mehr, ihre Orientierung und Selbstständigkeit nahm ab, sie war oft unruhig und ging tagsüber rastlos im Haus umher. „Ich schaffe das schon“, behauptete mein Papa weiterhin, aber im Alltag klappte vieles nicht mehr gut. Mein Bruder und ich halfen, ohne viele Worte darum zu machen. Wenn ich mit meinen Kindern zu meinen Eltern kam, räumte ich dort auf, putzte im Haus, half im Garten. Wenn ich nicht bei meinen Eltern war, kümmerte ich mich ebenfalls: um den Platz in der Tagespflege, um Rezepte von der Ärztin, um den ambulanten Pflegedienst.
Ich half gerne – und doch war ich genervt, weil all die Aufgaben zu den anderen in meinem ausgelasteten Alltag hinzukamen. Ich sah meinen Bruder selten, denn wir wechselten uns mit den Besuchen bei meinen Eltern ab. Es sollte möglichst oft jemand bei ihnen sein. Aus unseren Telefonaten hörte ich heraus, dass es ihm genauso ging mit all dem Putzen, Organisieren und Kümmern.
Die Eltern zu pflegen birgt auch Konfliktpotenzial
Martin Franke hat schon viele solcher Geschichten von Angehörigen gehört. Der Pflegeberater aus Bad Dürkheim sagt: „In das Kümmern und Pflegen rutschen die meisten Menschen hinein. Die Aufgaben werden mit der Zeit immer mehr, und häufig kommt es zu Streit unter Geschwistern.“ Besonders, wenn die Aufgaben ungleich verteilt seien und sich ein Geschwister mehr kümmere als die anderen, sorge dies für Unmut. „Oft übernehmen die Geschwister, die nah bei den Eltern wohnen, mehr Aufgaben, und häufig sind es die Töchter“, sagt Franke. „Aber es gibt keinen Grund, warum Männer keine Pflege übernehmen können. Und auch aus der Ferne kann man vieles erledigen.“ Er empfiehlt daher, alle Aufgaben – und seien sie noch so klein – aufzuschreiben und untereinander aufzuteilen.
Auch Sabine Engel kennt das Konfliktpotenzial des Pflegens. „In so gut wie jeder Familie führt die Pflegebedürftigkeit der Eltern zu Konflikten unter den Kindern“, sagt die Professorin für soziale Gerontologie an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen in Paderborn. Engel berät seit mehr als 20 Jahren Menschen mit Demenz und deren Familien und weiß: „Die Gründe, warum es zu Konflikten kommt, sind komplex und vielfältig.“ Es beginne meist schon damit, dass die Eltern mit ihren Kindern nicht darüber sprechen, welche Erwartungen sie haben, ob und wie sie gepflegt werden möchten.
Erwartungen offen kommunizieren
Auch in meiner Familie gehörte das Thema Pflege lange Zeit nicht zum Gesprächsrepertoire. Selbst nach der Diagnose meiner Mutter haben wir kaum darüber geredet. Dabei raten sowohl Franke als auch Engel, sich frühzeitig über Erwartungen und Wünsche auszutauschen – im Idealfall, bevor Pflege notwendig wird. So können die Eltern ihre Anliegen äußern und es kommt nicht zu falschen Erwartungen. „Die unausgesprochenen Erwartungen liegen wie eine Last auf den erwachsenen Kindern und können zu Missverständnissen führen“, sagt Martin Franke.
„Jeder möchte das Beste für die Eltern, aber wie genau das aussieht, darüber herrschen unterschiedliche Vorstellungen“, weiß Sabine Engel. Selbst wenn Menschen in derselben Familie aufwachsen, unterscheiden sie sich in ihrer Persönlichkeit und ihren Erfahrungen – und entwickeln eine andere Vorstellung vom Pflegen. Wer die Wünsche der Eltern kennt, sei im Vorteil, weil man sich direkt darum kümmern könne – ohne erst Detektiv spielen zu müssen.
Wenn die Eltern Pflege brauchen, stellt das auch die Eltern-Kind-Beziehung auf die Probe. „Jedes Kind hat eine eigene Beziehung zu jedem Elternteil, entsprechend verhält es sich. Diesen Erwartungsrucksack nimmt man mit in die Pflegesituation, ohne sich darüber bewusst zu sein“, sagt Engel. Manche Kinder erhoffen sich durch Kümmern endlich Wertschätzung, die ihnen immer gefehlt hat, andere ziehen sich zurück. Auch die Beziehung der Geschwister untereinander spiele hinein. „Alte Rollenbilder oder gar Rivalitäten können aufkommen und die Pflegesituation belasten“, so Franke. Hilfreich sei, sich über die eigene Rolle klar zu werden.
Gemeinsame Pflege kann Familienbindung stärken
Mein Bruder und ich haben uns immer gut verstanden. Eine gute Voraussetzung, um sich als Team um die Eltern zu kümmern, denke ich. Aber als Ältere von uns beiden hatte ich schon immer das Gefühl, dass ich diejenige bin, die weiß, was richtig ist – und entscheiden muss. Ich muss gestehen, ich dachte auch in Sachen Pflege lange, dass ich am besten Bescheid weiß und verantwortlich bin. Doch mittlerweile ist mir klar: Das ist nicht so. Spätestens seit meine Mama einen Kreislaufzusammenbruch hatte und mein Bruder zufällig vor Ort war und alles managte, habe ich verstanden, dass er nicht mehr mein „kleiner Bruder“ ist, sondern ein gleichwertiger Partner in Sachen Elternkümmern. „Die Pflege bietet auch die Chance, sich neu kennenzulernen“, meint Franke.
Und wie lässt sich nun eine Lösung für die große Aufgabe – sich gemeinsam um die Eltern zu kümmern – finden? Am besten kommen alle an einen Tisch und tauschen sich offen aus. „Pflege geht nie ohne Beziehungsarbeit und dazu muss man miteinander kommunizieren“, sagt Franke.
Auch wir kamen nach der Diagnose zusammen und sprachen miteinander. Wichtige Themen kamen allerdings nicht auf den Tisch. Ich traute mich nicht, meine Eltern zu fragen, ob und unter welchen Umständen sie sich einen Umzug in ein Pflegeheim vorstellen konnten. Ich hoffte, mein Bruder würde fragen, aber ihm fiel es genauso schwer. Wir wollten unserer Mutter nicht das Gefühl geben, sie abschieben zu wollen. Überhaupt, das Thema Heim schien so weit weg. Meine Eltern waren doch noch fit.
Das hilft, wenn es zum Streit kommt
Jahre später fehlt uns noch immer die Klarheit. Und doch wird immer augenscheinlicher, dass unsere Eltern mehr Unterstützung benötigen und es zu Hause nicht mehr so gut geht. Vielleicht wäre es besser, sie würden umziehen? Wäre eine betreute Einrichtung nicht geeigneter, weil dann immer jemand zum Helfen da wäre? So oft habe ich mich das gefragt. Als wir wieder einmal alle zusammenkommen und ich das meinen Vater frage, reagiert er ablehnend. „Ich schaffe das schon zu Hause“, sagt er bestimmt. Ich bin froh um die klare Ansage und zweifle dennoch. Meinem Bruder geht es ähnlich. Wir diskutieren, reden immer lauter und uns in Rage. Mir kommen die Tränen, ich bin enttäuscht und frustriert. Wir wollten doch als Familie zusammenhalten – und nun streiten wir.
„In solchen Gesprächen wird es schnell emotional. Das liegt weniger an den Einzelpersonen, sondern vor allem an der komplexen Problemsituation“, weiß Sabine Engel. Gut sei es, wenn sich jeder vorab über die Krankheit und Unterstützungsmöglichkeiten informiere, etwa an den Pflegestützpunkten oder in Angehörigenschulungen. Für das Gespräch sei es wichtig, sich viel Zeit zu nehmen und vorab Regeln festzulegen. Etwa: Jeder darf zehn Minuten reden. In dieser Zeit spricht nur die Person und alle anderen hören zu. „Im ersten Schritt geht es darum, dass jeder seine eigene Sichtweise erläutert“, so Engel. Im nächsten Schritt könne man gemeinsam Lösungen finden.
Sabine Engel rät, mit Stufenplänen zu arbeiten: nicht versuchen, von vornherein das große Ganze zu planen, sondern für die nächste Zeit eine Lösung zu finden. „Wenn es ums Pflegen geht, funktioniert es nicht, einmal einen Plan zu machen, der dann für immer gilt. Es sind immer wieder Anpassungen nötig, etwa weil sich der Gesundheitszustand verändert oder die bisherige Betreuungsperson ausfällt“, erklärt Engel.
„Wir helfen euch“
Ich finde diese Herangehensweise irgendwie befreiend, sie ermöglicht ein Ausprobieren. Das gibt es ja häufig im Pflegealltag. Es gibt etliche Unterstützungsmöglichkeiten und Hilfen, aber welche in der individuellen Situation passen, zeigt sich oft erst in der Praxis. Ein Test kann auch helfen, wenn es um große Entscheidungen wie den Umzug ins Heim geht. Um das zu meistern, braucht es viele Gespräche, Vertrauen und das Wissen um das gemeinsame Ziel.
Mein Bruder und ich kennen unseres auch heute noch: „Wir helfen euch“, sagen wir meinem Papa. Wie genau das aussieht, darüber sind wir uns nicht immer einig. Aber nach einer hitzigen Diskussion wieder zusammenzukommen und zu wissen, was wichtig ist – dass es Mama gut geht: Das eint uns.
Quellen:
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Elfmann P. Demenz: Verstehen und achtsam begleiten. Baierbrunn (2022): Wort & Bild Verlag
- Verband der Ersatzkassen e.V.: Pflegelotse. Online: https://pflegelotse.de/... (Abgerufen am 01.03.2023)
- Bundesministerium für Gesundheit: Online-Ratgeber Pflege. Online: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/... (Abgerufen am 01.03.2023)