Stiller Reflux: Magensaft im Rachen
Angelika V. aus Köln resümiert: "Jetzt bin ich 43 Jahre alt. Und ich will mindestens 86 werden, damit ich wenigstens die Hälfte meines Lebens ohne diese Beschwerden gelebt habe." Schon von Kindheit an litt sie fortlaufend an Gesundheitsproblemen: Ständig war sie erkältet, die Nebenhöhlen waren zu, Halsschmerzen quälten sie. Morgens hatte sie das Gefühl, als würde ein Kloß im Hals stecken. Diese Symptome wurden zunehmend unerträglicher.
Deshalb war sie bereits mit 14 Jahren Dauergast bei Hals-Nasen-Ohren-Ärzten. Diese vermuteten verschiedene Ursachen für ihre häufigen Infekte, von einem angeschlagenen Immunsystem bis hin zu einer verkrümmten Nasenscheidewand. Letztere wurde sogar operiert. "Zwar konnte ich dann besser durch die Nase atmen – aber die Infekte kamen trotzdem, und die Halsschmerzen wurden keinen Deut besser", berichtet Angelika.
Lange Zeit blieb der Auslöser für ihr Leiden unbekannt. Er lag weder in der Nase noch im Rachen oder im Kehlkopf, sondern tiefer: Aufsteigender Magensaft reizte Schleimhäute, die sich röteten, anschwollen und immer empfindlicher wurden: "Mit der Zunge konnte ich spüren, wie sich am Gaumen Schleimhautbahnen lösten", erzählt die Langzeitpatientin.
Fehlgeleiteter Magensaft greift Schleimhäute an
Magensaft gehört in den Magen und soll dort die Nahrung verdauen. Er enthält Salzsäure und Enzyme wie Pepsin, die im sauren Milieu aktiv werden und Eiweiße spalten. Die Magenschleimhaut schützt das Organ vor dem ätzenden Saft. Erreicht die Flüssigkeit aber andere Schleimhäute, werden diese angegriffen.
Meist fließt der Magensaft nur zu weit nach oben, wenn der Mageneingang an der Mündung der Speiseröhre nicht richtig schließt. Grund kann eine Schwäche des Schließmuskels sein (siehe Grafik). Auch ein Gewebebruch (Hernie), bei dem ein Teil des Magens durch das Zwerchfell nach oben rutscht, beeinträchtigt mitunter den Verschluss. Bei Angelika V. bildete sich die Ursache allerdings schon, als sie noch im Mutterleib war: Durch einen Fehler in der Embryonalentwicklung bildete sich in der Speiseröhre eine zwei Zentimeter große Insel aus Magenschleimhaut. Sie produzierte Magensaft, der gasförmig nach oben stieg.
Erst nach vielen Jahren stieß Angelika V. im Internet auf den Begriff "stiller Reflux" und erkannte ihre Symptome in der Beschreibung. "Als ich daraufhin erstmals ein Magen-Gel gegen Sodbrennen einnahm, war das wie ein Feuerlöscher gegen meine Halsschmerzen", erinnert sie sich.
Symptome jenseits der Speiseröhre
Viele Betroffene spüren die zerstörerische Wirkung des aufsteigenden Magensafts in der Speiseröhre und nehmen sie als Sodbrennen wahr (siehe Grafik). Es gibt aber auch den sogenannten stillen Reflux ohne typische Beschwerden in der Speiseröhre. In der Medizin spricht man deshalb von „extra-ösophagealen Symptomen“, weil Strukturen außerhalb der Speiseröhre beeinträchtigt werden (Ösophagus ist der anatomische Begriff für die Speiseröhre).
Bei dieser Form steigt Magensaft oft als Gas in die oberen Regionen der Speiseröhre auf und erreicht Kehlkopf, Rachen, Nasennebenhöhlen und Atemwege. Dann können wie bei Angelika massive Gesundheitsstörungen im Hals-Nasen-Ohren-Bereich auftreten (siehe Kasten). Bei ihr war die Ursache jahrelang nicht erkannt worden.
Gespräch zwischen Patient und Arzt kann wegweisend sein
Ähnliche Berichte kennt auch Professor Wolf Mann aus Mainz, der 26 Jahre lang die dortige Universitäts-HNO-Klinik leitete und jetzt in einer Privatpraxis tätig ist. Er sieht viele Reflux-Patienten, die schon mehrere Ärztinnen oder Ärzte besucht haben, ohne die richtige Diagnose zu erhalten. "Wenn man aber den Patienten mal länger als zwei Minuten zuhört, kann man oft schon bei der Anamnese herausfinden, was die Beschwerden auslöst", sagt Mann.
Zum Beispiel, ob der Husten mit der Nahrungsaufnahme oder der Körperposition zusammenhängt. Oder ob die Betroffenen beim Bücken das Gefühl haben, dass etwas Richtung Hals läuft. Ein weiterer wichtiger Schritt sei, andere Ursachen auszuschließen. Dazu gehören eine besondere Stimmbelastung, Allergien oder Medikamente, die als Nebenwirkung Husten auslösen.
Mögliche Untersuchungen für die Diagnosestellung
"Als Nächstes zeigt mir dann eine Kehlkopfspiegelung meist typische Befunde für einen Reflux", fährt Mann fort. "Es treten dort Schwellungen auf, die Stimmlippen oder die Vorsprünge der Stellknorpel im Kehlkopf (Aryhöcker) sind gerötet. Und bei schweren Fällen kommen auch Kontaktgranulome vor." Das sind entzündlich verursachte, rötliche, oft kugelförmige Gebilde.
Im Zweifel kann durch die Nase eine Sonde eingeführt werden, die im Rachen 24 Stunden lang den Säuregehalt misst. "Allerdings finden viele Patienten die Messung lästig. Alternativ setze ich eine Probebehandlung gegen den Reflux an, um zu sehen, ob das die Beschwerden lindert." Dazu gehören Medikamente gegen Magensäure sowie, wenn nötig, ein Kortisonspray gegen die Entzündung. "Außerdem können Verhaltens- und Ernährungsregeln den Patienten erheblich helfen", ergänzt Mann.
Veränderter Lebensstil kann Beschwerden mindern
Auf die Verbesserung des Lebensstils legt die Ernährungsberaterin Pia Jensen besonders viel Wert. Sie arbeitet mit der HNO-Privat-Praxis Dr. Zenev der Kölner Pan-Klinik zusammen und hat bereits über achtzig Menschen mit HNO-Beschwerden durch Reflux betreut. Viele davon möchten nicht langfristig Protonenpumpenhemmer gegen die Magensäure einnehmen müssen und suchen nach einer Linderung auf natürlichem Weg.
"Außerdem erlebe ich häufig Patienten, die trotz Säurehemmern weiterhin Probleme haben", so Jensen. Die Medikamente unterdrücken zwar die Säureproduktion, verhindern aber nicht, dass der Magensaft nach wie vor die Schleimhäute erreicht. "Zwar enthält er dann kaum mehr Säure, aber immer noch Pepsin. Das Enzym lagert sich an die Schleimhaut an und kann durch saure Speisen aktiviert werden."
Saure Getränke tabu
Eine Studie zeigte, dass Pepsin in neutralem Milieu stabil bleibt, bereits ab einem geringen Säuregrad jedoch Eiweiße angreift. "Das Pepsin zersetzt die Eiweiße der Schleimhaut. Wir verdauen uns sozusagen selbst", so Jensen. Deshalb beginnt sie die Umstellung mit einer zweiwöchigen "Auswaschphase" der Schleimhäute, in der viel Wasser mit hohem pH-Wert getrunken werden soll. Saure Getränke und Lebensmittel unter pH 5 sind anfangs völlig tabu, später je nach Verträglichkeit erlaubt.
Dazu gehören Drinks mit Kohlensäure, Zitrusfrüchte und Tomaten. Aber auch auf andere Auslöser wie Süßigkeiten, scharfe Gewürze, fettreiche Mahlzeiten, Zwiebeln, Alkohol, röststoffreichen Kaffee und auf alles, was mit Hefe gebacken wird, sollten die Betroffenen verzichten. Ebenso einzuschränken wäre der Verzehr von tierischen Produkten und Weizen. Günstig wirken sich hingegen Ingwer, Banane, Kräutertees, Kamillenblüten und Kartoffelsaft aus. Darüber hinaus helfen einige allgemeine Verhaltensregeln, den Reflux einzudämmen (siehe Kasten).
Operation als weitere Behandlungsmöglichkeit
Nach der endoskopischen Verödung der Schleimhautinsel kam auch Angelika V. zur Ernährungsberaterin Pia Jensen. Angelika ist begeistert, wie sich seitdem ihre Beschwerden verringern. Erstmals lebt sie ohne Halsschmerzen.
Manchen Betroffenen gehen die Lebensregeln zu weit, oder die Behandlung schlägt auch nach Monaten nicht ausreichend an. Solche Patienten sieht Professorin und Chirurgin Jessica Leers von der Universitätsklinik Köln öfter in ihrer Refluxsprechstunde: "Wir haben im Halbjahr in etwa 300 Patienten, von denen ungefähr 100 einen Eingriff vornehmen lassen."