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Menschen über 65 Jahre bekommen zu oft Medikamente verschrieben, die ihnen mehr schaden als nutzen, untermauert eine neue Studie, veröffentlicht im Deutschen Ärzteblatt.[1] Mitautorin Prof. Dr. Petra Thürmann ist Direktorin des Philipp Klee-Instituts für Pharmakologie am Universitätsklinikum Wuppertal. Sie erklärt im Interview die Gründe und gibt Angehörigen Tipps für den Umgang mit Medikationsplänen.

Frau Prof. Dr. Thürmann, Sie haben vor kurzem die Medikation von über 150.000 Seniorinnen und Senioren nach Krankenhausaufenthalten analysiert. Was sind die wichtigsten Ergebnisse?

Petra Thürmann: Viele alte Menschen schlucken Medikamente, die für sie nicht geeignet sind: 30 Prozent der Untersuchten nahmen nach der Entlassung aus dem Krankenhaus mindestens ein Arzneimittel ein, das für Seniorinnen und Senioren potenziell unangemessen ist. Und 70 Prozent bekamen Medikamente zu lange oder in zu hohen Dosen. Die sogenannte Priscus-Liste zählt diese problematischen Wirkstoffe auf und benennt Alternativen mit weniger Nebenwirkungen.

Aber die Nebenwirkungen stehen doch im Beipackzettel?

Thürmann: Ja, aber nicht speziell für ältere Leute: Bei allen Untersuchungen ist mir aufgefallen, dass es fast immer ältere Menschen sind, die eine vermeintlich harmlose Nebenwirkung schwer trifft. Das bildet sich aber nicht im Beipackzettel ab. Da steht zum Beispiel ganz neutral „10 Prozent der Menschen könnten Schwindel erleiden“, ohne Unterscheidung nach Altersgruppe.

Prof. Dr. Petra Thürmann, Direktorin des Philipp Klee-Instituts für Pharmakologie am Universitätsklinikum Wuppertal

Prof. Dr. Petra Thürmann, Direktorin des Philipp Klee-Instituts für Pharmakologie am Universitätsklinikum Wuppertal

Verstanden! Schwindel kann zum Sturz führen. Und das hat im Alter oft schlimme Folgen.

Thürmann: Genau. Ein Sturz durch Schwindel bedeutet mit 85 Jahren etwas ganz anderes als mit 20 Jahren: Zum Beispiel eine gebrochene Hüfte, eine Operation unter Narkose und anschließend viel Zeit im Bett. Es ist furchtbar, wenn eine Person wegen eines ungeeigneten Medikamentes weniger fit ist, frühzeitig ins Altenheim muss oder das Bett nicht mehr verlassen kann.

In Ihrer Studie haben Sie auch festgestellt, dass Medikamente nach der Entlassung aus dem Krankenhaus genommen werden, die nicht mehr gebraucht werden. Wie kann sowas passieren?

Thürmann: Viele ältere Menschen bekommen im Krankenhaus starke Schmerzmittel, weil sie beispielsweise frisch operiert sind. Dazu benötigen sie zusätzlich ein Präparat für den Magenschutz. Die Schmerzmittel werden langsam ausgeschlichen, aber das Medikament für den Magenschutz wird zu Hause weiter genommen. Der Hausarzt oder die Hausärztin vergessen, das Medikament abzusetzen. Jahre später fragt sich vielleicht irgendjemand: „Warum nehmen Sie das eigentlich ein?“ Und niemand kennt den Grund.

Im schlimmsten Fall kommt die fitte Frau Müller wegen Demenz ins Altenheim, obwohl sie sich noch ohne diesen Angstlöser selbst versorgen könnte

Und bekamen die Untersuchten in Ihrer Studie auch zu viele bedenkliche Psychopharmaka?

Thürmann: Ja. Psychopharmaka können müde und verwirrt machen. Jeder denkt dann: „Och, jetzt ist die Frau Müller ein bisschen schusselig und müde geworden, das kann einem mit 80 ja mal passieren.“ Keiner denkt daran, dass ein Mittel gegen Ängste, etwa ein Benzodiazepin Frau Müller vergesslich und verwirrt macht. Im schlimmsten Fall kommt die fitte Frau Müller wegen Demenz ins Altenheim, obwohl sie sich noch ohne diesen Angstlöser selbst versorgen könnte.

Sie haben gerade den Zusammenhang zwischen Demenz und Psychopharmaka angesprochen. Überspitzt gesagt: Warum ist Oma im Altenheim die ganze Zeit zugedröhnt?

Thürmann: Ja, das ist wirklich ein schwieriges Kapitel. Wir haben in unseren Altenpflegeeinrichtungen in Deutschland im Mittel etwa 60 Prozent Personen mit Demenz. Diese Menschen können sich sehr fordernd oder aggressiv verhalten. Wir wissen, dass zum Beispiel Tanztherapien sehr gut helfen können. Dafür fehlt häufig die Zeit. Wie sollen zwei Stationspflegekräfte mit 30 Personen, davon 20 mit Demenz, fertig werden?

Die Ärztinnen und Ärzte verordnen bei diesen Symptomen oft sogenannte Neuroleptika. Auf der einen Seite können diese Mittel wahnhafte Vorstellungen wirklich wegnehmen, andererseits erhalten etwa vierzig Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner von Altenheimen Neuroleptika. Das ist im europaweiten Vergleich zu viel. Und auch deutschlandweit gibt es große Unterschiede zwischen den Einrichtungen, je nachdem wie viel Pflegekräfte zur Verfügung stehen und wie gut diese geschult sind.

Zurück zur Behandlung im Krankenhaus: Wie kann ich als Angehöriger meine Oma oder meinem Opa gut unterstützen?

Thürmann: Beim Entlassgespräch dabei zu sein, ist sehr hilfreich für alle Beteiligten. Das Krankenhaus wird es Ihnen danken, wenn Sie beim Medikationsplan aufpassen und wissen, was ihr Angehöriger gerade einnimmt und was er demnächst absetzen könnte. Es wäre gut, wenn Sie sich den Kurzarztbrief und den Medikationsplan im Krankenhaus genau erklären lassen. Gehen Sie auch im Gespräch auf mögliche Nebenwirkungen und Pläne zum Absetzen von Medikamenten ein. Sie können sich den Medikationsplan auch telefonisch durchgeben lassen. Sie müssen sich nicht selbst mit den Medikamenten gut auskennen. Es reicht völlig, wenn Sie da sind und mithören. Die Priscus-Liste gibt es übrigens als Broschüre im Internet und zwar hier. Dort können Sie sich über die bedenklichen Wirkstoffe und ihre Nebenwirkungen informieren.

Wie kann ich helfen, wenn die Oma oder der Opa wieder zuhause lebt?

Thürmann: Es ist sehr wichtig, auch im Anschluss den Angehörigen zu beobachten. Und mitzudenken, was die Hausärztin oder der Hausarzt absetzen sollte und was nicht. Das Krankenhaus gibt dazu ja im Entlassbrief Empfehlungen ab. Es kann beispielsweise sein, dass die Oma zuhause noch Opiate nehmen muss, damit kein Schmerzgedächtnis entsteht. Nimmt sie jedoch zu lange Opiate gegen Schmerzen, zeigt sich das an ihrem Verhalten. Sie wird dann „rammdösig“, will den ganzen Tag im Bett liegen. Beobachten Sie, wie ihr Angehöriger auf die Medikamente reagiert und begleiten sie ihn zur Hausärztin oder zum Hausarzt, um die Medikation zu besprechen. Auch Apotheken bieten übrigens an, den Medikationsplan zu analysieren.

Der Knackpunkt ist tatsächlich, dass die Patientin oder der Patient den Medikationsplan beim Arztbesuch nicht dabei haben

Menschen, die mindestens drei Medikamente dauerhaft verordnet bekommen, haben seit 2016 Anspruch auf einen Medikationsplan. Hat das Verbesserungen gebracht?

Thürmann: Es war toll, den Medikationsplan in die Gesetzgebung einzubinden. Leider sind wir mit der Digitalisierung noch nicht so weit, dass der Medikationsplan einfach digital zugänglich ist. Den aktuellen Medikationsplan müssen Ärztinnen und Ärzte mittlerweile bei der Entlassung aus dem Krankenhaus mitgeben. Das schützt Patientinnen und Patienten natürlich nicht davor, dass die Ärztin oder der Arzt vergessen dazuzuschreiben, was man in der nächsten Woche absetzen könnte.

Der Knackpunkt ist tatsächlich, dass die Patientin oder der Patient den Medikationsplan beim Arztbesuch nicht dabei haben. Das kann nur dadurch gelöst werden, dass der Medikationsplan digital gespeichert ist, beispielsweise in der digitalen Patientenakte. Das kann auch in einem Notfall helfen, wenn wir Ärztinnen und Ärzte, beispielsweise für eine Operation, schnell wissen müssen, welche Medikamente eine Person aktuell einnimmt.

Also ist die digitale Patientenakte auch eine Chance für eine bessere Versorgung mit den richtigen Medikamenten?

Thürmann: Genau! Dann wird der Medikationsplan routinemäßig Teil der Untersuchung bei der Hausärztin oder beim Hausarzt sein. Und auch alle übrigen Behandelnden wüssten sofort über die aktuelle Medikation Bescheid.

Nicht jeder will alles offenbaren und schon gar nicht digital. Können Sie das nachvollziehen?

Thürmann: Klar! Jede Patientin und jeder Patient hat eine eigene Situation. Ich verstehe, dass man bestimmte Erkrankungen und medikamentöse Behandlungen nicht jedem Arzt mitteilen möchte. Wer am Oberschenkel operiert wurde, denkt vielleicht, seine Depression vor zwei Jahren sei nicht relevant. Doch es kann auch ein Schaden entstehen, wenn man nicht über seine Erkrankungen und Medikamente spricht. Kein Laie kann wissen, welche Infos wichtig sind. Ich empfehle daher, sich Ärztinnen und Ärzte zu suchen, denen man vertraut. Alles, was Sie nehmen, obwohl Sie es nicht brauchen, ist gefährlich. Trauen Sie sich deshalb, Ihre Medikation anzusprechen.


Quellen:

  • [1] Then MI, Deutsch B, Tümena T et al. : The Prevalence of Potentially Inappropriate Medication in Geriatric Inpatients According to the PRISCUS 2.0 List. In: Deutsches Ärzteblatt: 22.09.2023, https://doi.org/...