Diabetes: „Zu viele Patienten auf zu wenig Ärzte“
Prof. Dr. Baptist Gallwitz ist Stellvertretender Ärztlicher Direktor der Abteilung IV (Diabetlogie, Endokrinologie & Nephrologie) in der Medizinischen Klinik des Universitätsklinikums Tübingen. Im Interview spricht er über die Versorgungsengpässe in der Diabetologie und wie man dennoch versuchen kann, Diabetes rechtzeitig zu entdecken.
Immer mehr Menschen erkranken an Diabetes. Hochrechnungen zufolge werden 2040 etwa 12 Millionen in Deutschland betroffen sein. Wie sollen so viele Menschen versorgt werden?
Laut Schätzungen braucht es mindestens 1500 Schwerpunktpraxen. Es gibt aber zu wenig Nachwuchs in der Diabetologie. Und natürlich braucht es auch mehr Hausärzte, die sehr häufig bei Diabetes Typ 2 mitbehandeln. Wir müssen dringend die weißen Flecken auf der Landkarte füllen.
Was meinen Sie damit?
Wir haben immer noch eine sehr ungleiche Verteilung, was die ärztliche Versorgung angeht. In den großen Städten sieht es oft besser als auf dem Land.
Wie könnten die Versorgungslücken denn geschlossen werden?
Eine Idee sind regionale oder lokale Netzwerke. Im Bereich des Diabetischen Fußes klappt das in einigen Regionen schon gut. Da arbeiten Diabetologen, Gefäßspezialisten, Podologen und Schuhversorger effizient miteinander. So sollte das überall sein und bei allen Behandlungen, die der Diabetes erfordert. Auch muss die Zusammenarbeit zwischen Kliniken, Hausärzten und den Spezialisten wie Diabetologen einfacher werden.
Wo hakt das Zusammenspiel ganz konkret?
Wenn eine Klinik etwa bestimmte Untersuchungen nicht anbieten kann, aber der Experte dafür um die Ecke sitzt, sind bislang komplizierte Verträge notwendig, um Patienten zu behandeln. Das kann zu langen Wartezeiten führen, in denen kostbare Zeit verstreicht. Zudem ist es leider immer noch so, dass das Krankenhausinformationssystem nicht kompatibel mit der Praxissoftware ist, so dass Befunde nicht automatisch übermittelt werden oder gar Informationen verloren gehen könnten.
Sie sprachen davon, dass es am Nachwuchs mangelt. Woran liegt das?
Einerseits ist es die Vergütung. So werden Operationen besser bezahlt als die sprechende Medizin, bei der Patienten beraten und geschult werden. Andererseits ist es für so manchen Mediziner unbefriedigend, dass der Erfolg bei der Diabetestherapie nicht sofort sichtbar ist. Viel mehr werden Patienten ein Leben lang begleitet und das Ziel ist, dass sie selbstständig und gut behandelt sind. Dazu kommt, dass nur an acht der 36 medizinischen Fakultäten klinische Diabetologie gelehrt wird. Das muss sich ändern. Auch sollte in jedem größeren Krankenhaus Diabetes-Expertise vorhanden sein.
Was muss passieren, damit Diabetes möglichst früh erkannt wird?
Es braucht Kampagnen und mehr Aufklärung. Beim „Checkup35“ gehört zum Beispiel die Blutzuckerkontrolle als Kassenleistung dazu. Wer aber nicht zum Arzt geht, kriegt auch keine Diagnose. Nach wie vor gibt es ein bis zwei Millionen, die bereits Diabetes haben, aber nichts von ihrer Erkrankung wissen. Gerade in dieser Zeit können etwa Herz oder Nieren schon Schaden nehmen.
Wir haben eine Adipositas-Pandemie. Die Diabetes-Erkrankungen im jüngeren Alter steigen. Müsste man nicht viel früher ansetzen als bei der Vorsorge im Erwachsenenalter?
Natürlich, die Deutsche Diabetes Gesellschaft fordert deshalb auch, dass es für alle in der Schule täglich eine Stunde Bewegung gibt. Und wir brauchen verbindliche Standards für gesundes Essen in Kitas und Schule sowie ein Werbeverbot für ungesunde Lebensmittel und Getränke. Zudem sollte Kompetenz für gesunde Ernährung und Gesundheit ganz allgemein unterrichtet werden. Damit in einem Alter, in dem die Prägung fürs spätere Leben stattfindet, jedes Kind lernt, wie man seine Lebensbedingungen verbessern kann.
Quellen:
- Bundesministerium der Justiz: Gesetz zur finanziellen Stabilisierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Finanzstabilisierungsgesetz). Bundesgesetzblatt: https://www.bgbl.de/... (Abgerufen am 12.01.2023)
- Kassenärztliche Bundesvereinigung: Terminservicestellen. https://www.kbv.de/... (Abgerufen am 13.08.2024)
- Verbraucherzentrale: Termin beim Facharzt nach 4 Wochen: So vermittelt Sie die Nummer 116 117. https://www.verbraucherzentrale.de/... (Abgerufen am 13.08.2024)
- Unabhängige Patientenberatung Deutschland: "Ziel klar verfehlt“: Unabhängige Patientenberatung fordert Nachbesserungen bei der Umsetzung des Terminservice-Versorgungsgesetz (TSVG). https://www.mynewsdesk.com/... (Abgerufen am 12.01.2023)
- Jameda: Besetzte Telefone und monatelange Wartezeit: Online-Terminvergabe gefragt, aber selten genutzt. https://presse.jameda.de/... (Abgerufen am 12.01.2023)
- Krankenkassen. Deutschland: Video-Sprechstunde - telemedizinische Beratung der Krankenkassen, Medizinische Beratung online. Online: https://www.krankenkassen.de/... (Abgerufen am 13.08.2024)
- Krankenkassen. Deutschland: Vermittlung von Facharztterminen, Unterstützung bei der zeitnahen Vermittlung eines Facharzttermins. Online: https://www.krankenkassen.de/... (Abgerufen am 13.08.2024)
- Deutsche Diabetes Gesellschaft; Erhard G. Siegel, Eberhard G. Siegel: Deutscher Gesundheitsbericht Diabetes 2023, Versorgungsstrukturen, Berufsbilder und professio- nelle Diabetesorganisationen in Deutschland. https://www.diabetesde.org/... (Abgerufen am 12.01.2023)