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Deutschlands Krankenhauslandschaft steht vor dem Kollaps. Retten soll sie eine Großreform, die eine Kommission für die Regierung ausgearbeitet hat. Am Donnerstag sprechen erstmals Bund und Länder darüber. Im Interview erklärt der Koordinator Professor Tom Bschor die wichtigsten Vorschläge – und sagt, ab wann sich was ändern könnte.

Herr Bschor, kürzlich zeigte die AOK, dass Patienten und Patientinnen tausendfach in Kliniken nicht adäquat versorgt werden. Gleichzeitig warnten Klinikfunktionäre vor Insolvenzen, während Kinderärzte im ganzen Land Probleme melden, schwerkranke Kinder stationär behandeln zu lassen. Wie nehmen Sie diese Nachrichtenlage wahr?

Professor Tom Bschor leitet die Regierungskommission zur Krankenhausreform.

Professor Tom Bschor leitet die Regierungskommission zur Krankenhausreform.

Diese Auswahl an Meldungen zeigt die großen Probleme unserer Kliniklandschaft, für die wir mehr Geld ausgeben als unsere europäischen Nachbarn. Trotzdem ringen Kliniken oder Abteilungen ums finanzielle Überleben und trotzdem gibt es große Qualitätsdefizite: Schlaganfälle beispielsweise werden nicht ausschließlich in Abteilungen mit spezieller Stroke-Unit behandelt und Krebsleiden zu häufig nicht in zertifizierten Krebszentren.

Was könnten die Reformvorschläge Ihrer Kommission daran ändern?

Zum Beispiel raten wir davon ab, Kliniken einfach medizinische Fachabteilungen wie zum Beispiel die Innere Medizin zuzuweisen. Das führt zu einem Gemischtwarenladen, wo auch eine kleine, schlecht ausgestattete Abteilung vom akuten Herzinfarkt bis zur komplexen Krebserkrankung alles machen darf. Stattdessen schlagen wir vor, den Kliniken gezielt Leistungsgruppen als Aufträge zu geben. 128 dieser Gruppen haben wir entwickelt, in denen sich die Innere Medizin zum Beispiel ausdifferenziert, etwa in die Angiologie, Gastroenterologie oder Leukämie. Krankenhäuser sollen damit einen gezielteren Auftrag bekommen, welche Leistungen sie durchführen sollen – zum Beispiel Nierenbehandlungen, Herzbehandlungen, Magen-Darm-Behandlungen oder Rheumatologie.

Zudem geben Sie vor, für welche Leistungsgruppe was an spezialisiertem Personal und Gerät vorgehalten werden muss. Warum?

Damit Patientinnen und Patienten sich künftig darauf verlassen können, beispielsweise bei einem Herzinfarkt nur dort eingeliefert zu werden, wo es ein Linksherzkatheter-Messplatz gibt und damit eine leitliniengerechte Behandlung möglich ist. Das Prinzip der Leistungsgruppen würde aber auch dazu führen, die Kliniklandschaft insgesamt besser nach Bevölkerungsbedürfnissen planen zu können.

Inwiefern?

Zum Beispiel könnten die Bundesländer, die für die Krankenhausplanung zuständig sind, recht einfach schauen, ob es in einer Region jemanden für Eingriffe an der Bauchspeicheldrüse gibt. Wenn nicht, müssten sie ein Krankenhaus bestimmen, das das aufbaut. Andersherum würde auffallen, wenn vier Kliniken quasi nebeneinander Leukämien behandeln und sich damit untereinander Fälle und Personal wegnehmen. Die müssten dann Leistungsgruppen untereinander sinnvoll und nach Bedarf tauschen. Das würde die Qualität deutlich erhöhen.

Ein anderes Kernelement Ihres Reformvorschlag ist die Idee, jede Klinik einem von drei Levelstufen zuzuteilen. Was wollen Sie damit erreichen – und wie hängen die Leistungsgruppen damit zusammen?

Das Ziel ist, dass jeder Patient und jede Patientin innerhalb von 30 Minuten eine Level-1-Klinik erreicht, die lokal eine Basis- und Notfallversorgung sicherstellt. Daneben soll es regional Level-2-Häuser zum Beispiel mit Geburtsstation sowie überregional Level-3-Kliniken für eine hochdifferenzierte Maximalversorgung geben. Darunter fallen vor allem die Unikliniken, die dann zum Beispiel auch eine Transplantationschirurgie oder Kinderonkologie anbieten, für die man auch weitere Strecken fahren kann. In den Leistungsgruppen ist wiederum festgelegt, ob sie durch ein Level-1-Krankenhaus erbracht werden dürfen oder ob es sich bei ihnen um etwas Komplexeres handelt, das nur an einer Level-2- oder gar Level-3-Klinik behandelt werden darf. Zum Beispiel, weil der Eingriff eine hochfunktionale Intensivstation oder die Zusammenarbeit diverser Fächergruppen erfordert.

Was dürfte ein Level-1-Haus denn zum Beispiel nicht machen?

Die Herzchirurgie würde es beispielsweise nicht bekommen.

Den Beinbruch beim Samstagsfußball aber schon?

Das wäre Basischirurgie beziehungsweise -traumatologie und wäre sicher an einem Level-1-Krankenhaus angesiedelt. Genauso würden etwa Lungenentzündungen oder Herzinsuffizienzen in die Basisstufe fallen.

Wie sieht es mit der Versorgung von Kindern aus, die gerade zu kollabieren droht? Viele von ihnen benötigen keine Hochleistungsmedizin, sondern eine Basisversorgung. Jemanden, der eine Influenza bedingte Dehydrierung oder eine Atemnot bei schwerer RSV-Infektion behandelt. Könnte Ihre Reform dazu führen, dass Kinder wieder sicher und wohnortnah versorgt werden?

Ja. Eine Atemnot zum Beispiel ist definitiv auch etwas, wo man sehr schnell in der Klinik sein muss. Entsprechend müssen dafür flächendeckend Level-1-Häuser da sein. Grundsätzlich ist es aber auch wichtig, nicht nur über die Unterversorgung in Bereichen wie der Pädiatrie oder der Intensivmedizin zu sprechen, sondern auch über die Überversorgung in anderen Bereichen.

Warum?

Weil wir einen eklatanten Personalmangel haben, der sich realistischerweise nicht ausschließlich durch ein Mehr an Ausbildung oder Zuwanderung beheben lassen wird. Wir müssen Überversorgung abbauen und Personal da einsetzen, wo die Bevölkerung es wirklich braucht – zum Beispiel in der Kindermedizin. Wir können es uns nicht mehr leisten, Personal etwa durch Herzkatheteruntersuchungen oder Knieersatzoperationen zu binden, für die es mitunter nur fragliche Indikationen gibt.

Dafür aber eine gute Bezahlung.

So ist es. Das bisherige System setzt Fehlanreize. Es wird das gemacht, was lukrativ ist, und nicht unbedingt das, was die Bevölkerung benötigt. Deshalb beinhaltet unser Reformvorschlag als drittes Element auch eine Veränderung der derzeitigen Vergütungspraxis. Die Fallpauschalen sollen deutlich abgesenkt werden, womit erstens der Reiz sinkt, Knieprothesen selbst bei fraglicher Indikation einzubauen, und zweitens Geld frei wird, um Kliniken Vorhaltekosten zu erstatten.

Was meinen Sie damit?

Die Häuser sollen Geld dafür erhalten, dass sie Personal und Gerät für den Fall der Fälle bereithalten. Wie die Feuerwehr, die ja auch nicht nur bezahlt wird, wenn es brennt. Gerade die Pädiatrie zeigt, wie wichtig das ist, weil die Fallzahlen hier jahreszeitlich stark schwanken. Wenn ein Chefarzt jetzt seine Geschäftsführerin bittet, Personal aufzustocken, wird die ihn fragen, was die Leute im Sommer tun und wie sie die dann bezahlen soll. Wenn die Vorhaltung ein Stück weit finanziert wird, kann man auch im Sommer überleben, wenn die Auslastung nicht so hoch ist. Diese Kosten sollen nach unserer Vorstellung 40 Prozent der Finanzierung ausmachen, in Fällen wie etwa der Neonatologie sogar 60 Prozent.

Warum sollte eine Klinik nicht trotzdem darauf aus sein, auf Eingriffe zu setzen, die im Verhältnis ja immer noch lukrativer sind als andere?

Zum Beispiel möglichst viele Knieprothesen zu implantieren, ist nur so lange lukrativ, wie die Fallvergütung deutlich höher ist als die Kosten, die der Klinik dabei entstehen. Werden die Fallpauschalen so abgesenkt, dass das Krankenhaus hierdurch im Wesentlichen nur noch seine Kosten etwa für das teure Material und die Medikamente decken kann, gibt es keinen Anreiz mehr, Behandlungen nur um der Behandlungen willen durchzuführen. Aus diesem Grund sollten die Fallpauschalen auch nicht zu stark absinken. Denn wenn eine Klinik mit einer Behandlung ein Minus macht, werden möglicherweise medizinisch notwendige Eingriffe verweigert.

Könnte Ihre Reform auch dazu führen, dass sich private Träger aus dem Klinikwesen verabschieden?

Eine spezifische Wirkung auf privat betriebene Krankenhäuser sehe ich nicht. Letztlich versuchen alle Kliniken unabhängig vom Träger, am Jahresende schwarze Zahlen zu schreiben.

Haben Sie einmal simuliert, wie sich die Kliniklandschaft nach Ihren Plänen verändern würde, vielleicht mehr Richtung Grund- statt Maximalversorgung? Die Reform soll ja kostenneutral sein und auch nicht mehr Personal erfordern, sagen Sie.

Beides ist zwingend notwendig, weil wir mehr Personal einfach nicht haben und die Gesundheitsausgaben einigermaßen stabil halten müssen. Ansonsten explodieren die Sozialabgaben. Wie sich die Kliniklandschaft genau verändern würde, kann man nicht sagen, aber unser Vorschlag zielt nicht darauf ab, im großen Stil Kliniken zu schließen. In Ballungszentren könnte das vereinzelt passieren, wo wir zum Teil im Abstand von zwei Kilometern Häuser haben, die das Gleiche anbieten und sich Patienten und Personal wegnehmen. Es ist ein Umbau geplant und kein ungesteuerter Abbau, den wir zurzeit erleben.

Und der zurzeit vor allem die kleinen Landkrankenhäuser zu treffen scheint.

Ganz genau. Gerade in diesem Bereich sähe ich aber eigentlich keine Schließungen. Die Kleinen werden wir brauchen, um die flächendeckende Versorgung zu gewährleisten – übrigens nicht nur die stationäre.

Wie meinen Sie das?

In vielen Regionen ist es schon lange nicht mehr so, dass sich die Niedergelassenen und die Kliniken die Patienten neiden, sondern eher, dass man froh ist, wenn überhaupt noch jemand beispielsweise die ambulante Hals-Nasen-Ohren-ärztliche Versorgung sicherstellt. Gerade für diese Fälle haben wir das erste Level auch noch einmal unterteilt und schlagen vor, Häuser mit einer integrierten ambulant-stationären Versorgung zu ermöglichen.

Wie muss man sich das vorstellen?

Wie ein Krankenhaus, das ambulante Behandlungen durchführt, aber auch Akutpflegebetten bereithalten muss. Zum Beispiel für alte Menschen, die dehydriert sind und Infusionen bekommen. Oder für Patientinnen und Patienten, die einfach ein paar Tage nach einem Knochenbruch aufgenommen werden müssen. Diese ambulant-stationär-integrierten Häuser könnten auch von Niedergelassenen mitgenutzt werden. Zudem könnten wir uns vorstellen, dass diese Häuser von akademisch qualifiziertem Pflegefachpersonal geleitet werden und nachts lediglich ein Arzt oder eine Ärztin in Rufbereitschaft sein müsste.

Dass Sie die bisher starke Trennung zwischen ambulanter und stationärer Versorgung aufweichen wollen, zeigt auch die Idee der Tagesbehandlungen im Krankenhaus. Was steckt dahinter?

Hierzulande werden überdurchschnittlich viele Menschen für Untersuchungen und Behandlungen aufgenommen. Häufig ist das nicht medizinisch begründet, sondern nur darin, dass die Kliniken auf diese Weise ihre Leistungen überhaupt erst oder besser abrechnen können. Das kostet nicht nur Geld, sondern bindet auch wieder Personal – vor allem pflegerisches. Deshalb schlagen wir vor, dass Kliniken aller Level Patientinnen und Patienten grundsätzlich auch nachts nach Hause schicken dürfen, wenn es medizinisch und von der häuslichen Situation her möglich ist. Krankenhäuser müssen keine Hotels mit medizinischer Zusatzleistung sein.

Hierzulande leben viele Menschen mit chronischen und auch seltenen chronischen Erkrankungen. Könnte sich auch deren Versorgung durch die Reform verbessern?

Das ist zu hoffen und auch zu erwarten, denn sie würden auch davon profitieren, dass es die Leistungsgruppen und damit eine bessere Spezialisierung gäbe. Zudem könnte es ein Vorteil für sie sein, dass die unterschiedlichen Kliniklevel besser vernetzt sind. Vor allem im Hinblick auf einen Austausch zwischen dem obersten und dem untersten Level empfehlen wir telemedizinische Methoden, um fehlende Expertise einzuholen. Das wird vor allem auch im Hinblick auf die Patientensteuerung wichtig, also für die Frage, wen Ärztinnen und Ärzte selbst behandeln oder weiterschicken.

Können Sie dafür ein konkretes Beispiel nennen?

Bei einer auffälligen Blutbildveränderung könnte das Level-1-Haus zum Beispiel telemedizinisch eine Zweitmeinung darüber einholen, ob es sich nur um eine bakterielle Infektion handelt, die gut antibiotisch behandelt werden kann, oder die Veränderung auch auf eine Leukämie hindeuten könnte.

Gibt es ein Land mit einem ähnlichen Klinik-Modell, wie Sie es planen?

Ein Modell, das alle drei Bestandteile unserer Reform beinhaltet, kenne ich aus anderen Ländern nicht. Aber dass die Fallzahl nur eine relative Rolle spielt und auch für Vorhaltung bezahlt wird, das ist in den meisten Ländern der Fall. Da war Deutschland bei der Einführung der Fallpauschalen schon etwas übereifrig. So rigoros hat es nicht einmal das Vorbild Australien gemacht.

Ihre Regierungskommission wurde vor einem halben Jahr als unabhängiges Expertengremium vorgestellt. Wie unabhängig waren Sie bei Ihrer Arbeit denn?

Sehr unabhängig. Natürlich hören wir verschiedenste Gruppen an, aber niemand diktiert uns, was wir als Umsetzung vorschlagen. Auch die Politik nicht. Das Bundesgesundheitsministerium sagte, dass wir Vorschläge machen sollen, die aus wissenschaftlicher Sicht sinnvoll sind. Gleichzeitig müssten wir damit rechnen, dass die Politik noch anderen Zwängen und Interessen unterliegt und nicht alles eins zu eins umgesetzt wird.

Für wie wahrscheinlich halten Sie es denn, dass Ihre Vorschläge so umgesetzt werden – und bis wann?

Gute Frage. Ein Teil davon ist ja nicht neu. Die Überwindung der ambulant-stationären Sektorengrenzen etwa ist als Thema uralt, aber nie richtig ins Laufen gekommen, weil sich die Akteure gegenseitig blockiert haben. Außerdem wird es komplex, sobald es ins Detail geht. Aber ich sehe Gründe, wegen derer die Chancen für eine wirklich tiefgreifende Reform noch nie so hoch waren wie jetzt.

Welche sind das?

Erstens ist die Not riesengroß. Im Gesundheitswesen brennt es lichterloh. Wenn wir jetzt nicht reformieren, wird das System kollabieren, mit katastrophalen Konsequenzen für die Patientinnen und Patienten. Zweitens geht es uns als Land wirtschaftlich auch nicht mehr so gut, weshalb wir die Probleme nicht mehr nur mit Geld lösen können. Das war eine Strategie, die wir in den letzten Jahrzehnten oft gesehen haben. Und drittens haben wir einen außergewöhnlichen Gesundheitsminister. Man kann zu ihm stehen, wie man will, aber er ist absolut vom Fach, will wirklich Gesundheitsminister sein und scheint recht resistent gegen Lobbyinteressen zu sein.

Also: Wann kommt die Reform?

Wir halten es nicht für illusorisch, dass das Jahr 2023 für die politische Umsetzung genutzt wird und die Reform dann zum 1. Januar 2024 in Kraft tritt. Darauf würde unserer Vorstellung nach eine fünfjährige Übergangsphase folgen, in der das System Stück für Stück umgestellt wird.