Diabetes im Job: (Fast) alles ist möglich
Elisabeth M., 25, wollte nie einen normalen Beruf. Etwas Außergewöhnliches schwebte ihr vor. Nur was? Das wird ihr schlagartig klar, als sie zufällig mit einer Zöllnerin ins Gespräch kommt. Sie erzählt Elisabeth M. gerade mal fünf Minuten von ihrer Arbeit. Doch das sorgt für den entscheidenden Impuls: Die junge Frau will auch Zöllnerin werden. An ihren Diabetes verschwendet sie in diesem Moment keinen Gedanken. Der gehört zu ihr und ist für die damals 19-Jährige selbstverständlich. Aber ist er das auch für ihren Berufswunsch? Denn Zollbeamte tragen eine Waffe — und das schließt Menschen mit Diabetes in der Regel aus.
Nur wenige „Problemberufe
“Neben den Zollbeamten gelten wenige weitere Tätigkeiten als nicht geeignet für Diabetiker, die Insulin spritzen: etwa Sondereinsatzkraft bei der Polizei, Industrietaucher, Kampfpilot, Fluglotse oder Brandbekämpfer bei der Feuerwehr.
Warum das so ist, veranschaulicht das Beispiel eines Feuerwehrmannes im Einsatz: Schutzanzug und Atemmaske machen es ihm unmöglich, im Fall einer Unterzuckerung schnell genug zu handeln. Zudem sind bei starker Hitze, elektromagnetischen Feldern und mechanischen Belastungen Fehlfunktionen von Insulinpumpe oder kontinuierlicher Zuckermessung nicht sicher genug auszuschließen
Die Geräte werden zwar ständig verbessert, bestätigt Dr. Kurt Rinnert, leitender Betriebsarzt der Stadt Köln. Aktuell reiche die Technik aber für diesen Job noch nicht aus. Deshalb ist das Sicherheitsrisiko für den Feuerwehrmann und sein Umfeld derzeit zu hoch. Doch es gibt immer weniger Einschränkungen für Menschen mit Diabetes bei der Berufswahl. Die Kassenzulassung von Systemen zur kontinuierlichen Glukosemessung (CGM) hat für Rinnert eine Revolution ausgelöst: „Dass immer mehr Diabetiker diese Systeme einsetzen können, erhöht die Sicherheit für sie und ihr Umfeld.“ Ein Grund, warum US-Amerikaner, Kanadier und Briten Menschen mit Typ 1 seit Kurzem als Piloten für Linienflüge akzeptieren. Rinnert engagiert sich unter anderem im Ausschuss für Soziales der Deutschen Diabetes Gesellschaft dafür, dass die europäische Union bald nachzieht.
Elisabeth M. Diabetologe ist skeptisch, als sie ihm vom künftigen Traumberuf als Zöllnerin berichtet. Nicht nur wegen des Waffentragens, sondern auch wegen des Schichtdienstes. Der kann das Blutzucker-Management erschweren. Der Arzt sieht wenig Chancen für seine Patientin. Trotzdem lässt sich die Abiturientin nicht abschrecken und bewirbt sich beim Zoll: „Wenn ich mir etwas in den Kopf setze, bleibe ich hartnäckig!“
Diabetes angeben oder nicht?
Sie besteht einen schriftlichen und einen mündlichen Eignungstest. Als sie daraufhin zum Vorstellungsgespräch eingeladen wird, weiß noch keiner bei der Behörde von ihrem Typ-1-Diabetes. Ist es ein Fehler, den Diabetes zu verschweigen? „Grundsätzlich nicht“, sagt Arbeitsmediziner Rinnert. Solche Erkrankungen müssen weder im Anschreiben noch im Gespräch erwähnt werden — es sei denn, sie hätten entscheidende Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit. Wer befürchtet, er könne sich und andere durch den Diabetes gefährden, dem empfiehlt Rinnert, vor der Bewerbung mit dem behandelnden Diabetologen oder Fachleuten einer Diabetes-Selbsthilfeorganisation zu klären, ob sich der angestrebte Beruf tatsächlich für ihn eignet.
Entscheidung im Einzelfall
In ihrem Vorstellungsgespräch wird Elisabeth M. gefragt, wie sie zu Dienstwaffe und Dienstkleidung steht. „Da habe ich dann ehrlich gesagt, dass ich wegen meiner Krankheit wahrscheinlich keine Waffe tragen darf“, erzählt sie. Die Reaktion des Sachgebietsleiters, der das Gespräch führt, bleibt ihr unvergesslich. Er zeigt ihr sein eigenes Blutzuckermessgerät und antwortet: „Frau M., es ist ein Trugschluss, dass Sie mit Diabetes in keinen waffentragenden Bereich kommen können. Das ist eine Einzelfallentscheidung. Wenn Sie die Voraussetzungen erfüllen, steht Ihnen nichts im Weg.“ Elisabeth M. fällt bei diesen Worten ein Stein vom Herzen.
Drei große Risikofaktoren gibt es für Diabetiker im Beruf: eine schlechte Blutzuckereinstellung, häufige Unterzuckerungen und eine Unterzucker-Wahrnehmungsstörung. Tatsächlich treten nach Rinnerts Kenntnisstand gefährliche Unterzuckerungen am Arbeitsplatz bei stabilen Blutzuckerwerten aber ausgesprochen selten auf. „Wenn sich solche krankheitsbedingten Risiken durch Technik, Wissen, Erfahrung und Umfeld ausgleichen lassen, sind sie für den Berufswunsch kein Hindernis“, sagt er.
Vor dem Einsatz: Zucker-Check
Elisabeth M. beginnt im Jahr 2016 ihre Ausbildung zur Zöllnerin und absolviert danach ihren Waffenlehrgang. Boxtraining und Selbstverteidigung bereiten ihr keine Probleme. Seitdem darf sie bei Außeneinsätzen eine Waffe tragen. Auch das Diabetes-Management läuft reibungslos. „Vor einem Einsatz achte ich besonders auf mein Essen und meinen Blutzucker“, erklärt sie. Um unterwegs keinen Unterzucker zu riskieren, startet sie mit einem etwas höheren Wert. Meistens trägt sie Dienstkleidung, um auch erkennbar zu sein. Die Waffe bleibt dabei verdeckt. Vor dem Aussteigen aus dem Dienstwagen kontrolliert sie zur Sicherheit immer noch schnell ihren Zucker.
Offenheit am Arbeitsplatz Dank Sensor am Oberarm ist das eine Sache von Sekunden. „Ich werde sehr früh gewarnt, wenn die Werte sinken. So könnte ich rechtzeitig reagieren“, sagt sie. Das Praktische an ihrer Diensthose ist, dass alles Wichtige in die Taschen passt: das Smartphone, an das der Sensor die Werte sendet, Traubenzucker, eine Banane und der Insulinpen.
Zu Beginn ihrer Ausbildung wird die junge Zöllnerin öfters auf den Sensor angesprochen. Heute ist er für die Kollegen so selbstverständlich wie das Messen und Spritzen im Büro. Diese Offenheit ist für Rosalie Lohr, leitende Diabetesberaterin am Klinikum der Universität München, die beste Lösung. Viele Berufstätige erwähnten den Diabetes nicht. Das sei nachvollziehbar. Aber wer die Krankheit geheim hält und dadurch sich oder andere gefährdet, müsse unter Umständen haften und riskiere seine Einsatzstelle im Beruf.
Rosalie Lohrs Rat: „Ein paar Vertrauenspersonen sollte man sich öffnen.“ So können Kollegen kritische Situationen besser einschätzen und im Notfall eingreifen. Gehen Betroffene ganz natürlich mit dem Diabetes um, so Lohr, und verstecken sich beim Messen und Spritzen nicht, speichert das Umfeld den Diabetes als selbstverständlich ab.
Elisabeth M. ist wegen der Pandemie derzeit meist im Innendienst tätig. Schichtarbeit ist nicht nötig, aber sie hätte keine Probleme damit. Auch Diabetologin Dorothea Reichert sieht Schichtdienste nicht als K.-o.-Kriterium für die Berufswahl bei Diabetes. „Den Blutzucker zu managen kann herausfordernd sein, aber ich kenne viele, bei denen es funktioniert“, weiß die Landauer Ärztin aus ihrem Praxisalltag.
Schichtdienst auch mit Diabetes
Wichtig sei, dass Betroffene auch im Schichtdienst die Zeit eingeräumt bekommen, ihre Werte zu kontrollieren und entsprechend mit Insulin zu steuern. Eine Insulinpumpe könne hilfreich sein, um den Blutzucker bei der Schichtarbeit weiter im Griff zu behalten. Zöllnerin Mikulin kommt derzeit mit Insulinpens und CGM-System gut zurecht. Die letzte heftige Unterzuckerung, bei der sie nicht mehr selbst reagieren konnte, erlebte sie vor 16 Jahren zur Grundschulzeit. Seitdem hat sie ein sehr gutes Gefühl für ihren Blutzucker entwickelt und geht achtsam mit ihrem Körper um. „Da, wo ich bin, wollte ich sein, und ich bin glücklich damit“, sagt sie. Seit Juli 2021 ist die Typ-1-Diabetikerin Beamtin auf Lebenszeit.