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Der mittlere Blusenknopf platzt ausgerechnet in der Kantine ab. Der Lehrer kritisiert die Mängel des Deutschaufsatzes vor der ganzen Klasse. Fahrkartenkontrolle, Ticket vergessen. Das Ergebnis in allen Fällen: Scham. Jeder kennt sie, erlebt sie, lebenslang. Berufliches Versagen, Übergewicht, Armut, Arbeitslosigkeit können Auslöser tiefer und anhaltender Scham sein.

"Schamgefühle gehören zu den stärksten, unangenehmsten und intimsten menschlichen Regungen", sagt Dr. Udo Baer, Körpertherapeut aus Nordrhein-Westfalen, der ein Sachbuch zu diesem Thema geschrieben hat. Wer sich schämt, ist im Kern getroffen. Er möchte sich umgehend auflösen, im Erdboden versinken, unter die Teppichfranse kriechen, den hochroten Kopf in den Sand stecken. Doch der Körper zeigt das genaue Gegenteil. Indem wir rot werden, kehrt sich unser Innerstes nach außen. Die Scham wird sichtbar. Für alle. Wie peinlich!

Scham schützt unsere Intimität

Zurzeit scheint die Schamschwelle allerdings dramatisch zu sinken: Im Fernsehen lassen sich junge Menschen vor Millionenpublikum demütigen; in Talkshows pöbeln sich Eheleute an; in Internet-Blogs werden freimütig intimste Geheimnisse verraten. "Die öffentlich praktizierte Schamlosigkeit führt dazu, dass die natürliche Scham allmählich an Wert verliert", befürchtet Dr. Baer. Diese aber sei wichtig, denn sie schütze die Grenzen unserer Intimität – und die Grenzen der anderen. "Wenn ich zufällig das Tagebuch meiner Tochter finde, bin ich peinlich berührt. Dieses unangenehme Gefühl bringt mich dazu, das Buch zurücklegen, ohne hineinzuschauen, um ihre Intimsphäre nicht zu verletzen."

Empfinden wir heute tatsächlich weniger Scham als früher? Im Gegenteil, behauptet Sozialpsychologin Dr. Brené Brown von der University of Houston. Vor allem bei den Frauen habe sich das Schämen zu einer "sozialen Epidemie" ausgewachsen, lautet ihr Fazit aus der Befragung Hunderter Frauen. "Wir schämen uns, weil wir glauben, dass wir zu dick, schlechte Mütter, nicht sexy genug seien." Dahinter stecke die Angst, nicht zu genügen. Scham sei ein Auslöser von Perfektionismus, Sucht, Angststörungen, Schuldgefühlen, Aggressivität und der Beschämung anderer. Sie verändere Beziehungen, Familien, Gesellschaften, "ohne dass wir uns dessen bewusst sind."

Scham ist zutiefst menschlich und hält die Gemeinschaft zusammen

Sicher ist: Die Fähigkeit, Scham zu empfinden, ist exklusiv menschlich. Sie steckt uns vermutlich in den Genen, ihre äußeren Anzeichen sind universell: Erröten, gesenkter Blick, hängende Schultern, eingefallene Brust. Anders als Emotionen wie Angst oder Ärger, muss das Schamgefühl erst reifen. Ab zirka zwei Jahren, wenn das Kleinkind sich seiner Individualität bewusst wird, ist es nach Ansicht der Forscher fähig, sich zu schämen.

Warum brauchen wir dieses Gefühl? Für Daniel Fessler von der University of California ist Scham seit der Frühgeschichte des Menschen der "entscheidende Mechanismus, um die Zusammenarbeit in Gruppen zu etablieren und aufrechtzuerhalten." Die peinigende Emotion treibt dazu an, die geltenden Normen einzuhalten. Dies sichert den Verbleib in der Gruppe – und somit das Überleben. Nach innen wirkt Scham wie eine Alarmglocke, nach außen beschwichtigt sie: Seht her, ich habe eine Regel verletzt, und mir geht es nicht gut damit. Mehr Bestrafung ist nicht nötig.

Diesen Effekt wollen beispielsweise amerikanische Justizbehörden nutzen, wenn sie Delinquenten statt einer Haft- oder Geldstrafe eine Beschämung auferlegen. Wie in Florida, wo Freier, die bei einer Prostituierten ertappt werden, im Fernsehen vorgeführt werden. Die Stadt New York plant unterdessen, Fotos samt Namen von notorischen Rasern öffentlich auszuhängen.

Fremdschämen: Die Blamage anderer ist uns peinlich

Das sitzt, nicht nur beim Verkehrssünder. Denn Beschämung zieht oft größere Kreise: Die Ehefrau, deren Mann sich auf der Party daneben benimmt, schämt sich stellvertretend für ihren Gatten, weil sie davon ausgeht, dass beide als zusammengehörig wahrgenommen werden. Eine weitere Spielart, das Schämen für völlig fremde Menschen, wird besonders im Fernsehen kultiviert und ist mittlerweile so verbreitet, dass der Begriff "fremdschämen" es bereits als Eintrag in den Duden geschafft hat. Dass die Blamage anderer im wahrsten Sinn des Wortes peinlich ist, also richtig weh tut, haben der Psychologe Sören Krach und sein Team von der Universität Marburg mit bildgebenden Verfahren nachwiesen. Demnach werden beim Fremdschämen die gleichen Hirnareale aktiviert wie beim Mitleid für körperliche Schmerzen anderer.

Scham ist der Kitt, der die Gemeinschaft zusammenhält. Er birgt aber auch Risiken und Nebenwirkungen, unter anderem für die Gesundheit: Scham trägt nämlich dazu bei, dass viele Menschen sich vor ärztlichen Vorsorgeuntersuchungen drücken. Sie meiden den Check zur Früherkennung von Hautkrebs, die Krebsvorsorge bei Frauenarzt oder Urologe; Jugendliche riskieren Krankheiten und ungewollte Schwangerschaften, weil es ihnen peinlich ist, ein Kondom zu benutzen. Professorin Emily Merrill von der Texas Tech University stellte zudem fest, dass übergewichtige Frauen oft sehr lange zögern, bei einer Erkrankung medizinische Hilfe zu holen, da sie sich ihrer Körperfülle schämen.

Wenn Scham- und Schuldgefühle krank machen

Überstarke Schamgefühle machen die Seele krank. Wie Mehltau legt sich die Scham über das Leben, dämpft die Freude, bremst den Elan. Die Folge: sozialer Rückzug und Isolation. Oft tritt Scham im Doppelpack mit Schuldgefühlen auf. "Wer Scham spürt, empfindet sich in diesem Moment als wertlos, ungenügend, falsch. Schuldgefühle beziehen sich darauf, etwas falsch getan zu haben", sagt Therapeut Dr. Udo Baer. In seine Praxis kommen häufig Patienten, die sich von starken Scham- und Schuldgefühlen beherrscht fühlen, "Dabei sagt ihnen ihr Verstand, dass diese Gefühle in keinem angemessenen Verhältnis zum Auslöser stehen."

In der Therapie gehe es unter anderem darum, das Empfinden für den eigenen Selbstwert zu stärken – und die positiven Aspekte der Scham zu würdigen. "Scham ist der Schutzschirm unserer Intimität, wir brauchen sie", sagt Dr. Baer. Ähnlich sieht es der Psychologe Matthew Feinberg von der University of California in Berkeley. In einer Studie fand er heraus, dass Menschen, die leicht in Verlegenheit geraten, als vertrauenswürdiger, sympathischer und großzügiger wahrgenommen werden, verglichen mit eher "ungerührten" Menschen. Feinbergs Fazit: "Unsere Daten belegen, dass Scham eine wirklich gute Sache ist und nichts, das man bekämpfen sollte."