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Prof. Hans Hermann Wickel ist Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Musikgeragogik e.V. So wie sich Musikpädagogen der musikalischen Bildung von Kindern und Jugendlichen widmen, lehrt er als Musikgeragoge Senioren das Musizieren.

Herr Wickel, wie unterscheidet sich musikalische Bildung für Senioren von der für Kinder?

Es gibt selbstverständlich auch sehr anspruchsvolle Musik-Angebote für ältere Menschen. Wer aber krank oder eingeschränkt ist, dem ermöglicht man in der Musikgeragogik einen niedrigschwelligeren Einstieg ins Musizieren. Wir schauen auf Veränderungen im Alter und passen musikalische Angebote entsprechend an.

Prof. Hans Hermann Wickel ist Musikwissenschaftler und Mitbegründer der Musikgeragogik.

Prof. Hans Hermann Wickel ist Musikwissenschaftler und Mitbegründer der Musikgeragogik.

Haben Sie Beispiele dafür?

Wenn eine Großmutter ihrem 14-jährigen Enkel ein Handy schenkt, fummelt der sofort drauf los und lernt dabei. Wenn der Enkel aber seiner Oma ein Handy schenkt, wartet die auf den Enkel bis er es ihr erklärt. Man spricht vom expliziten Lernen. Das heißt, ältere Menschen erschließen sich Techniken eher nicht selbst. Sie haben es lieber, wenn man ihnen Dinge Schritt für Schritt erklärt. Das gilt auch für’s Musizieren.

Was gilt es noch zu beachten?

Auch auf Sinnesbeeinträchtigungen im Alter nehmen Geragogen Rücksicht. Wenn betagtere Musikschüler schlechter hören oder sehen, dauert es natürlich auch länger, bis sie sicher mit dem Instrument oder ihren Noten sind. Dafür ist Geduld nötig. Außerdem gehen Senioren anders mit ihrer Zeit um. Ein Senioren-Chor probt selten spätabends im Winter, sondern am Vormittag. Für so einen barrierefreien Alltag müssen Geragogen sensibilisiert sein.

Haben Senioren durch ihr Alter auch Vorteile beim Musizieren?

In der Tat, denn ihre Motivation ist eine ganz andere als bei jungen Menschen. Viele Kinder gehen in die Musikschule, weil ihre Eltern das wollen, können sich kaum zum Üben aufraffen. Wenn ein alter Mensch sich entscheidet, wieder zu musizieren, steckt da eine hohe intrinsische Motivation in ihm. Da fällt das Üben dann auch leichter.

Man ist nie zu alt, um Musik zu machen!

Und was wiederum können sie sich durch das Musizieren für Vorteile erhoffen?

Zunächst einmal erfüllen sich viele Senioren damit einen Lebenstraum. Vielleicht wollten sie als Kind immer Saxophon lernen oder als Jugendlicher in einer Rockband spielen, konnten aber nicht, weil die Eltern es verboten haben oder das Geld fehlte. Das nachzuholen, sorgt für Zufriedenheit. Viele stopfen mit dem Musizieren auch Löcher aus Langweile oder Einsamkeit, die in ihren Alltag gerissen werden, wenn sie mit dem Ruhestand plötzlich mehr Zeit haben oder wenn die Kinder aus dem Haus sind.

Musizieren hat also auch eine soziale Komponente?

Ja der soziale Aspekt des gemeinsamen Musizierens ist enorm wichtig. Mitwirken in einem Ensemble, ein wichtiger Teil einer Gruppe zu sein, das stärkt das Selbstwirksamkeitsgefühl. Gerontologen sagen auch, das Wichtigste für erfolgreiches Altern ist, unter Menschen zu sein und ein Netzwerk zu haben. Darum spielt auch das soziale Drumherum eine Rolle: Mit den Band-Kollegen ein Bier trinken oder auf eine Chorfreizeit fahren zum Beispiel.

Hält gemeinsames Musizieren im Alter also gesund?

Es hält uns zumindest fit und wach. Mit anderen Musik zu machen, verschiedene Stimmen in Einklang zu bringen, das ist eine willkommene Herausforderung für den Kopf, die Motorik, die Emotionalität im Alter. Man kann inzwischen auch nachweisen, dass beim gemeinsamen Musizieren positive Botenstoffe im Gehirn aktiviert werden, die wirken quasi wie ein nebenwirkungsfreies Antidepressivum. Ich kenne Senioren, die schwer depressiv sind. Ihre Chorprobe ist der einzige Grund, der sie motiviert, das Haus zu verlassen. Auch Erinnerungen zu wecken, ist ein wichtiger Aspekt.

Wie funktioniert das?

Stark Demenzkranke etwa kann man fast nur noch mit Musik erreichen. Das hängt damit zusammen, dass das musikbiografische Gedächtnis in der Nähe des motorischen Zentrums im Gehirn liegt. Da erlebt man solche Wunder, dass Menschen, die seit Wochen nicht mehr sprechen, ein Lied singen können mit allen Strophen. Die Erinnerung daran kommt durch die Musik.

Das klingt vielversprechend. Warum spielen nicht längst alle Senioren in einer Band oder singen im Chor?

Viele Senioren hätten sicher Lust, doch sie haben Barrieren im Kopf: Bin ich nicht zu alt dafür? Was sagt meine Familie dazu? Was sagen die Nachbarn? Manche älteren Menschen glauben auch, dafür kein Geld ausgeben zu dürfen. Da braucht es Ermutigung und empathische Musiklehrer, die das thematisieren. Man ist nie zu alt zum Musik machen!

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