Logo der Apotheken Umschau

Die Musikwissenschaftlerin Melanie Wald-Fuhrmann arbeitet am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik in Frankfurt am Main. Wir haben sie gefragt:

Frau Professorin Wald-Fuhrmann, Sie haben untersucht, wie sich der Umgang mit Musik während des ersten Corona-Lockdowns verändert hat und ob Menschen Musik als etwas erleben, das ihnen in der Krise hilft. Wie kam es dazu?

Auslöser waren die vielen einschlägigen Medienberichte. Wir sahen Menschen, die in Italien auf den Balkonen gesungen haben. Musiker, die für andere Menschen spielten. In Deutschland wurde das dann nachgemacht. Dazu fingen die Menschen an, übers Internet miteinander zu musizieren. Live-Konzerte wurden aus Wohnzimmern gestreamt. Waren das eher Einzelfälle, die die Medien da aufgriffen? Wie viele Menschen machen sowas? Und warum? Das wollten wir uns genauer anschauen.

Wir haben dann festgestellt, dass wir nicht die einzigen sind, die sich der Frage, wie Musik in der Krise auf die Regulation von Gefühlen wirkt, wissenschaftlich angehen. Ein schwedischer Musikpsychologe, Nils Christian Hansen, der an der Universität in Arhus forscht, hatte sich ganz ähnliche Fragen gestellt. Wir nahmen Kontakt auf – der Beginn einer tollen, internationalen Zusammenarbeit mit zahlreichen Wissenschaftlern, die alle für das Thema brannten und die sich gefunden haben.

Was macht Musik mit Menschen in Krisenzeiten? so ein Experiment hätte man unter normalen Umständen ja niemals machen können. Bei allem Schlimmen, was der Lockdown mit sich gebracht hat: Für die Forschung bot sich eine tolle Chance!

Wie sind Sie vorgegangen?

Unsere Befragungen liefen online, noch während des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020. Teilgenommen haben 5000 Personen aus insgesamt vier europäischen Ländern, den USA und Indien. Es war uns wichtig, uns das Ganze international anzuschauen, denn die Schärfe der Pandemie und die Strenge der Lockdown-Maßnahmen waren ja durchaus recht unterschiedlich.

Wir dachten: Vielleicht hängt die Art und Weise, wie Menschen in Krisen auf Musik zurückgreifen, ja auch davon ab, wie streng ein Lockdown ist? Tatsächlich haben wir hier aber eher wenig Unterschiede gefunden. Musik scheint für die Menschen in einer globalen Krise wie der Corona-Pandemie ein wichtiges Hilfsmittel zu sein.

Wer waren die Teilnehmer der Untersuchungen? Haben Sie schwerpunktmäßig Menschen angesprochen, für die Musik bereits vor Corona eine wichtige Rolle spielte? Nutzer von Musik-Foren beispielsweise? Keineswegs.

Die Studienteilnehmer stellen einen Querschnitt durch die Bevölkerung da. Sie sind repräsentativ in Bezug auf Alter, Geschlecht und Bildungsgrad.

Was sind die wichtigsten Ergebnisse der Studie?

55 bis 57 Prozent der Befragten berichteten von verschiedenen Verhaltensänderungen, etwa in Bezug auf ihre Gründe fürs Musikhören oder Musizieren, Situationen oder Formate. Und insgesamt gehörte Musikhören zu den Top-6 Alltagsbeschäftigungen, die für die Menschen während des Lockdowns wichtiger geworden waren.

Die anderen waren Menschen anrufen, Nachrichten sehen – damit rechnet man, wenn die Leute viel zu Hause sind und einen hohen Informationsbedarf haben. Auch, dass Dinge wie Kochen oder Putzen wichtiger geworden sind, war wenig verwunderlich: Wenn der Bewegungsradius weitestgehend auf die eigenen vier Wände begrenzt bleibt, ergibt sich das.

Aber daneben standen eben mit Musikhören und Filme/Serie schauen zwei lockdownkompatible Freizeitbeschäftigungen. Das Musikmachen ist immerhin noch auf Rang zwölf gekommen.

Und was die Frage nach der Musik als Bewältigungsstrategie angeht: Das erlebte ebenfalls mehr als die Hälfte unserer Teilnehmer so. Sie sagten, Musik helfe ihnen emotional, aber auch, sich weniger allein zu fühlen.

Wurde auch gefragt, warum die Menschen Musik hören?

Natürlich. Beziehungsweise: Wir haben gefragt, welche Gründe ihnen wichtiger oder weniger wichtig geworden sind. Es bereitet mir Freude, es ist schön – das wurde am häufigsten genannt. Außerdem eine Reihe von Gründen, die darauf zielen, negative Gefühle und Zustände zu mildern, Trost zu spenden, sich weniger allein zu fühlen.

Es ist hier aber wichtig zu betonen, dass Musik nicht irgendeine Art Wundermittel ist und einfach so positiv wirkt. Stattdessen entstehen die positiven Wirkungen durch den bewussten Umgang mit Musik – und auch nur dann, wenn einem das jeweilige Stück auch gefällt. Musik ist keine Pille.

Inwieweit haben die Menschen während des Lockdowns Musik anders genutzt als sonst?

Ein wichtiger Punkt ist das sogenannte Musikauswahlverhalten. Mehr als die Hälfte der Teilnehmer hatte ein Interesse für sogenannte „Coronamusik“ entwickelt. Und ein gutes Drittel gab an, jetzt andere Musik als vorher zu hören. Von diesem guten Drittel sagte wiederum ein Drittel: Ich höre jetzt nicht nur andere Stücke, ich höre sogar ein ganz anderes Genre.

Was ist „Corona-Musik“?

Dabei handelt es sich um musikalische Reaktionen auf die Corona-Krise – neu komponierte Stücke, thematische Wiedergabelisten sowie bereits existierende Songs, deren Texte mit Bezug auf die Pandemie überarbeitet wurden.

Was folgern Sie daraus? Konnten Sie bestimmte Musikstile finden, die für die Menschen besonders hilfreich waren?

Nein, in diese Richtung haben wir nicht gefragt. Das ist ja auch sehr individuell. Für mich lassen diese Ergebnisse eher auf etwas anderes schließen. Man hört ja nicht durch Zufall auf einmal ein anderes Genre. Die Menschen haben offenbar sehr gezielt nach Musik gesucht, die ihnen hilft, mit der Situation besser klarzukommen, und haben dabei auch neue musikalische Wege eingeschlagen.

Sie meinen, die Menschen haben jetzt bewusster Musik gehört als sonst?

Teilweise ja. Viele Teilnehmer berichteten, dass sie Musik jetzt häufiger allein und konzentriert hören und nicht nur im Hintergrund. Solche Verhaltensänderungen können allerdings auch eher unbewusst laufen – und trotzdem passieren sie nicht beliebig. Aus zahlreichen Studien wissen wir, dass Leute intuitiv sehr gut darin sind, eine für ihre momentane Stimmung und Situation jeweils passende Musik auszuwählen. Menschen machen sowas aufgrund ihrer Erfahrungen. Sie wissen in etwa, was sie brauchen.

Aber noch einmal zurück zu Ihrer Frage: Doch, ich gehe schon davon aus, dass einige sich ganz bewusst auf die Suche gemacht haben. Gerade der Austausch über die sozialen Netzwerke war zur Zeit des Lockdowns ja enorm. Die Leute haben sich Tipps gegeben, um mit der Eintönigkeit zurechtzukommen, haben einander Links zu YouTube Videos geschickt, Playlists angelegt und miteinander geteilt.

Musik scheint für viele eine sehr nahe liegende Bewältigungsstrategie gewesen zu sein. Etwas, was weit über das hinausging, was sich im eigenen Inneren abspielte. Wo ich mich nicht mit meinen besten Freunden treffen kann, die mir sonst helfen, wird Musik zum sozialen Faktor.

Können Sie das genauer erklären? Wenn ich Musik höre, bleibe ich doch weiterhin mit mir selbst beschäftigt, oder?

Unsere Daten zeigen, dass es anders ist. Tatsächlich kann Musik eine Art Gesprächspartner sein. In der Forschung spricht man hier von einer Funktion von Musik als Social Surrogacy, als Ersatz für den Austausch mit Menschen.

Musik ist ja immer von Menschen gemacht. Ein Stück drückt etwas aus, will etwas mitteilen. Wenn ich ein Stück höre oder spiele, kann ich in einen Dialog mit der Person gehen, die diese Musik gemacht hat. Gerade in vielen Popsongs wird zudem ein lyrisches Du angesprochen. Da wird das Ganze dann noch konkreter.

Musikhören ist etwas weit weniger Passives, als viele denken. Übrigens haben wir gefunden, dass Menschen, die sich mit dem beschäftigt haben, was wir Coronamusik nennen, in der Krise die größte Unterstützung durch Musik erfahren haben.

Das heißt, die gestreamten Konzerte, die Coronasongs auf Youtube oder die Musiker auf den Balkonen haben etwas angeschoben?

Das glaube ich, ja, und zwar nicht nur punktuell, sondern in Bezug auf den Umgang der Menschen mit Musik in dieser Krise insgesamt. Nochmal: Wie schlimm das Virus in den einzelnen Ländern gewütet hat, spielte fast keine Rolle in der Frage der emotionalen und sozialen Stressbewältigung durch Musik. Die Effekte waren überall zu finden.

Und je mehr jemand sich dafür interessiert hat, wie andere Menschen Musik als Bewältigungshilfe nutzen – Stichwort Coronamusik–desto mehr hat er selbst profitiert.

Wir alle in einem Boot – ist es das, was über die Musik transportiert wurde?

Ja. Oder noch genauer: Dass alle, wenn nicht von der Pandemie, so doch vom Lockdown betroffen waren, war ja jedem bewusst. Aber im Medium der Musik konnte man das auch gemeinsam erleben, sich gemeinsam darüber austauschen – trotz social distancing. Das ist hier, glaube ich, die Besonderheit der Musik.

Unsere Studienergebnisse gehen jedenfalls weit über die Ahnung hinaus, dass das eigene Lieblingslied schöne Gefühle erzeugen kann. Wenn ein Lied, das mir gefällt, auch noch die Krise thematisiert, hilft mir das offenkundig noch deutlich mehr.

Im Rahmen einer weiteren Forschungsarbeit habe ich mich mit Corona-bezogenen Songparodien beschäftigt. Das war ja ein großer Trend: Musiker genauso wie Privatleute haben bestehende Songs genommen und die Texte umgeschrieben. Da ging es dann ums Homeschooling, um leere Toilettenpapierregale und die tödliche Langeweile im Lockdown. Eine Familie aus England ist sehr berühmt geworden mit diesen Songs, die aus meiner Sicht fast therapeutische Wirkung hatten.

Wir müssen da durch, reißt euch zusammen – so ging die öffentliche Debatte. Diese Songs haben parallel dazu die Möglichkeit geboten, anzuerkennen, was es sonst noch gab. Mir geht es schlecht – wenn ich sehe, dass ich damit nicht alleine bin, geht es mir vielleicht schon besser. Und auch eine gewisse Ironisierung in der Musik und Humor haben geholfen, mit der Krise umzugehen.

Die gestreamten Konzerte haben darüber hinaus etwas erlaubt, was im Lockdown sonst nicht möglich war: Man konnte etwas gemeinsam mit anderen erleben. Kein Wunder, dass Livestreams viel gefragter und erfolgreicher waren als on Demand Streams.

Welche Schlüsse ziehen Sie aus ihrer Studie?

Musik hilft, emotional und sozial. Nicht Musik als Pille, sondern der Umgang mit ihr. Wenn wir uns die zwei Hauptprobleme des Lockdowns ansehen, dass die Menschen nämlich zum einen ängstlich, deprimiert und gestresst und zum anderen einsam waren, dann wird die Bedeutung von Musik deutlich, denn in genau diesem Bereichen haben wir, wie gesagt, die größten Effekte gefunden.

Musikhören, aber selbst Musizieren sind leicht verfügbare, billige Mittel in Krisenzeiten, die Menschen dabei helfen können, emotional stabil zu bleiben. Aus dieser Erkenntnis sollten auch kulturpolitisch Schlussfolgerungen gezogen werden. Vielleicht könnte die öffentliche Hand in der nächsten Welle ganz gezielt Musiker beauftragen, Songs zu schreiben oder gemeinsames Musizieren anzuleiten.

Tatsächlich ist das für mich persönlich fast der wichtigste Aspekt der Studie. Die ganze Diskussion um die Systemrelevanz von Kultur erschien mir recht unkonkret. Hier aber haben wir einen ganz konkreten Punkt. Musik ist mehr als nur ein nice to have. Im Umgang mit der Corona-Krise hat sie für viele Menschen eine Schlüsselrolle gespielt.

Prof. Melanie Wald-Fuhrmann vom Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik in Frankfurt am Main

Prof. Melanie Wald-Fuhrmann vom Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik in Frankfurt am Main