Die Kraft der Bäume
Dicht an dicht stehen Baumkolosse. Ihre Blätter und Nadeln schmiegen sich in weiter Höhe aneinander. Wir sind im Wald. Von quietschgrünem Farn bis dunkelgrünen Tannen: satte Farbtöne, wohin das Auge sieht. Harzgeruch erfüllt die frische Luft. Dazu erklingt die Melodie des Waldes. In den Wipfeln rauscht der Wind. Ein Specht klopft in den Baumkronen. Ein Kuckuck ruft. Eine Drossel singt ihr Lied. Dort rauscht ein kleiner Bach durch Moos und Wurzelwerk. Hier raschelt das Laub unter der Schuhsohle, knacken Äste.
"Wälder sprechen alle unsere Sinne an", sagt der Umweltsoziologe Dieter Rink vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Leipzig. "Das ist ein Grund, warum wir gern hineingehen – und vielleicht auch, weshalb Wald uns guttut." In seinen Forschungsprojekten hat Rink festgestellt: Wenn Menschen hierzulande an Natur denken, dann sehen sie vor ihrem inneren Auge zuerst Bilder von einem Wald. "Er ist für Deutsche der Inbegriff von Natur", sagt der Umweltforscher. Tatsächlich hat kein anderes Land in Mitteleuropa so viele der grünen Rückzugsorte. Etwa ein Drittel der deutschen Landschaft besteht aus Wald.
Doktor Baum
Wälder sind eine Oase der Ruhe und Erholung. Das kann wohl jeder aus eigener Erfahrung bestätigen. Inzwischen belegen auch wissenschaftliche Studien: Inmitten von Bäumen schlägt unser Herz gemächlicher, der Stresspegel sinkt und die Stimmung steigt. Erhebungen von Europa bis Asien zeigen: Wälder entspannen den Menschen sofort und nachhaltig, sie verleihen neue Energie und können das Wohlbefinden beflügeln.
In Japan strömen die Menschen sogar zu therapeutischen Angeboten ins Dickicht der Stämme. Beim sogenannten Waldbaden achten die Teilnehmer unter Anleitung achtsam auf Geräusche und Gerüche, meditieren oder machen Yoga. Ob das gesünder ist, als ohne professionelle Begleitung den Wald zu genießen, bleibt noch zu klären.
Grüner Seelenstreichler
Den Wald als Seelenstreichler zu nutzen, boomt – auch in Deutschland. Auf der Insel Usedom wächst derzeit der erste Kur- und Heilwald Europas. Natürlich: Wälder sind erfüllt von frischer Luft ohne Feinstaub und ätherischen Gerüchen. Für Menschen mit Atemwegserkrankungen liegt der Nutzen auf der Hand.
Doch woher kommt die wohltuende Wirkung für die Seele? „Zum einen sind Wälder ein Kontrast zur Alltagswelt, gerade für Leute aus der Stadt“, sagt die Psychologin Antje Flade, die sich in ihrem aktuellen Buch mit Naturpsychologie befasst. Hier sei keine bebaute Umgebung, sondern reine Natur, nichts Menschengemachtes. Kein Dröhnen von Motoren oder ratternden Bahnen, keine Betonwände und eckigen Gebilde. Das regeneriere. Außerdem sieht Flade speziell in Bäumen eine Quelle, um aufzutanken: „Sie sind ein Symbol für ein langes Leben, für Kraft und Bodenständigkeit. Wir werden ehrfürchtig bei ihrem Anblick. Denn Bäume leben so viel länger als der Mensch, und es würde sie auch ohne uns geben“, sagt sie.
Raum für Bewegung
Was wir im Wald tun, verstärkt vermutlich die wohltuende Wirkung. „In Wäldern erholen sich die meisten Leute aktiv, sie wollen sich dort bewegen“, sagt Rink. Allem voran spazieren, wandern oder joggen viele hindurch. Zum Reiten, Radeln oder auch Klettern eignen sich Wälder ebenso. Sie locken zudem zum Pilze- und Beerensammeln.
Manchen Besucher beleben womöglich auch die Erinnerungen, die Wälder zu wecken vermögen. Viele haben als Kinder Stunden im Schutz der Bäume verbracht. Hier gab und gibt es noch immer unendlich viel zu entdecken. Hirschkäfer und Ameisen krabbeln über den laub- und moosbedeckten Boden. Derweil klettern Eichhörnchen an der Rinde einer Eiche hinauf. Heruntergefallene Zweige und Farn dienen zum Bau von Höhlen. Baumstämme gewähren Schutz beim Versteckspielen. Wer hier als Erwachsener spazieren geht, entdeckt vielleicht auch wieder ein bisschen Kind in sich. Wald bietet für all das kostenlosen Raum: für Erinnerungen, für Bewegung, fürs Seelebaumeln. Kein Wunder, dass wir uns in ihm gut aufgehoben und wohlfühlen.