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Herr Hocker, die FDP möchte Werbeeinschränkungen nicht mittragen. Laut Minister Cem Özdemir sollen die Maßnahmen helfen, Kinder zu schützen. Was ist an diesem Vorhaben verkehrt?

Dr. Gero Hocker: Ich glaube, dass wir uns in einer Sache einig sind: Wir erkennen an, dass Übergewicht und die Folgen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen ein gesellschaftliches Problem sind – gerade bei Kindern und Jugendlichen. Dagegen müssen wir etwas tun. Ich bin mir nur nicht sicher, dass ein Werbeverbot in der geplanten Form das beste Mittel ist.

Warum?

Hocker: Früher wurde viel aggressiver für Lebensmittel geworben. Da hieß es: „Wenn du nicht XY kaufst, dann wird nie was aus dir.“ Solche Werbung gibt es heute glücklicherweise nicht mehr. Trotzdem sind mehr Kinder adipös als früher. Wir müssen uns deswegen noch genauer anschauen, was hinter dieser Entwicklung steckt.

Renate Künast: Im Koalitionsvertrag haben wir uns längst auf Werbebeschränkungen geeinigt, um Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen zu bekämpfen. Übrigens gibt es heute viel mehr überzuckerte Produkte und Werbung als in unserer Kindheit. Und mehr als 60 Institutionen, darunter Gesundheits- und Verbraucherorganisationen, befürworten das geplante Gesetz.

Hocker: Mir geht es um die Frage des Wie. Ich unterstütze das Vorhaben, wenn wir uns darauf einigen können, was an Kinder gerichtete Werbung ist. Die im Gesetzentwurf erfolgte Festlegung bestimmter Zeitfenster, in denen beispielsweise im Fernsehen keine Werbung stattfinden darf, finde ich fragwürdig. Wir sollten über Sendeformate sprechen oder über bestimmte Werbemethoden, die wir einschränken wollen. Aber pauschale Werbeverbote in bestimmten Zeiten gehen aus meiner Sicht zu weit.

Frau Künast, ist Cem Özdemirs Gesetzentwurf zu viel des Guten?

Künast: Nein, die im Entwurf genannten Zeitfenster sind nicht aus der Luft gegriffen. Das sind Zeiten, in denen erwiesenermaßen viele Kinder fernsehen. Wie abends oder am Wochenende in der Früh. Da werden Produkte mit Kindern als Adressat beworben – und die Werbeindustrie wendet dafür jährlich eine Milliarde Euro auf. Das Gesetz ist ein wichtiger Baustein, um Kinder zu schützen und Eltern zu stärken. Das Werbezeitfenster bleibt und kann für bessere oder andere Produkte genutzt werden.

Wieso stärken Werberegulierungen Eltern? Sie entscheiden doch selbst über die Ernährung ihrer Kinder

Künast: Natürlich entscheiden die Eltern mit ihren Kindern, was auf den Tisch kommt. Das darf aber kein Ablenkungsmanöver sein. Die Werbeindustrie macht es ihnen unglaublich schwer. Firmen geben eine Milliarde Euro aus, um Kinder trickreich an Süßes zu binden. Am Ende sind es die Eltern, die alleine dagegen halten sollen? Ich weiß, dass viele das zwischen Vollzeitjob und Carearbeit nicht leisten können. Der Staat muss für Kinder eine gesunde Umgebung schaffen, so steht es auch in der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen. Es ist unsere Pflicht, Eltern in Sachen gesunde Ernährung zu unterstützen.

Hocker: Das sehe ich anders. Mit einem Werbeverbot senden wir das falsche Signal. Wir vermitteln den Eindruck, Eltern ein Stück weit von ihrer Verantwortung zu entbinden. Aber sie selbst müssen auf eine gesunde Ernährung ihrer Kinder achten. Ich glaube, es führt kein Weg daran vorbei, dass Eltern mal „Nein“ sagen. Das ist ein Erziehungsauftrag, den wir nicht nehmen wollen und nicht nehmen können, indem wir mit Verboten agieren. Und das sage ich als Vater einer dreijährigen Tochter, der im Jugendalter selbst übergewichtig war.

Gero Hocker und Renate Künast (beide Mitte) arbeiten in der Ampel gemeinsam an Ernährungsthemen. Mit der Apotheken Umschau trafen sie sich im Bundestag

Gero Hocker und Renate Künast (beide Mitte) arbeiten in der Ampel gemeinsam an Ernährungsthemen. Mit der Apotheken Umschau trafen sie sich im Bundestag

Nicht jeder weiß über gesunde Ernährung Bescheid. Manche Familien sehen mehr fern. Würde ein Werbeverbot nicht zu mehr Chancengleichheit führen?

Hocker: Ich würde zustimmen, wenn ich den Eindruck hätte, dass es ein Informationsdefizit gibt. Aber Informationen über Nährwerte, Kalorien und Tagesbedarf sind überall – unabhängig von Bildungsstand, Einkommen oder sozialer Zugehörigkeit. Viele haben heute sogar eine Smartwatch, die Schritte zählt und automatisch den Kalorienverbrauch berechnet. Jeder kann frei darüber entscheiden, was er oder sie isst.

Künast: Freiheit bedeutet für Kinder auch, in einer Umgebung zu leben, in der sie nicht ständig durch Werbung manipuliert werden. Werbung löst Wünsche aus, sonst gäbe es sie nicht. Als Bundesregierung dürfen wir nicht vergessen, die Kosten in den Blick zu nehmen: Übergewicht verursacht im deutschen Gesundheitswesen Ausgaben von rund 35 Milliarden Euro. Und wenn wir volkswirtschaftliche Kosten dazurechnen, sind es 63 Milliarden Euro. Wie wollen wir erklären, dass Krankenkassenbeiträge steigen und wir auf der anderen Seite zu wenig gegen ernährungsbedingte Krankheiten tun? Natürlich werden Werbebeschränkungen alleine das Problem nicht lösen, aber sie sind ein wichtiger Baustein im Kampf gegen Übergewicht.

Welche Bausteine gehören noch dazu?

Künast: Viel zu tun gibt es in Sportvereinen und Schulen. Die sind finanziell leider häufig schlecht ausgestattet. Da fehlt Geld für die Sanierung einer Turnhalle und es gibt zu wenige Sportlehrer. Hier müssen wir den Dialog mit den Ländern suchen, die für das Thema Schule verantwortlich sind. Wir müssen auch dafür sorgen, dass die Lebensmittelindustrie Rezepturen ändert. Aus Großbritannien wissen wir, dass sich die Industrie bewegen kann: Dort sind dank einer Zuckersteuer viele Softdrinks weniger süß als früher. So etwas kann ich mir in Deutschland vorstellen, aber darauf haben wir uns in den Koalitionsverhandlungen nicht einigen können.

Hocker: Eine Zuckersteuer hat es aus gutem Grund nicht in den Koalitionsvertrag geschafft. Für mich ist Bewegung der Schlüssel. Es wäre zum Beispiel schon viel erreicht, wenn Kinder zu Fuß zur Schule gehen und ihre Eltern sie nicht mit dem Auto bis vor die Tür fahren würden.

Künast: Ich finde, so drückst du dich vor der Verantwortung, die Politik übernehmen muss. Wir haben kaum Einfluss, ob Eltern mit dem Auto zur Schule fahren.

Hocker: Wir müssen noch stärker dazu animieren, sich im Alltag mehr zu bewegen, über eine Kampagne zum Beispiel. Aber ich stimme dir zu, dass sich im Schul- und Vereinssport endlich etwas tun muss.

Herr Hocker, wie müsste das Gesetz zu Werbeeinschränkungen denn nun aussehen, damit die FDP es abnickt?

Hocker: Es dürfen nicht pauschale Regelungen sein, was Lebensmittel und Zeiten anbelangt. Es muss um Werbung gehen, die sich explizit an Kinder richtet. So wie es jetzt geplant ist, befürchte ich, dass in der Primetime Werbung für Bier gezeigt werden kann, aber nicht für Gummibärchen. Das halte ich für absurd. Wir legalisieren zu Recht Cannabis, weil wir an die Eigenverantwortung des mündigen Verbrauchers appellieren. Doch wenn es um Werbung geht, wollen wir Eltern aus der Verantwortung nehmen. Es kann mir aber keiner erzählen – unabhängig von sozialer Schicht – dass er nicht weiß, dass Pizza oder Süßigkeiten schlecht für die Gesundheit sind.

Frau Künast, finden Grüne und FDP auf dieser Basis einen Kompromiss?

Künast: Eine Festlegung auf bestimmte Werbeformate ist mir zu eng. Es reicht nicht, wenn wir uns nur auf Werbung in reinen Kindersendungen konzentrieren. Viele Kinder unter 14 Jahren gucken genauso wie Erwachsene Fußballübertragungen oder Castingshows. Das dürfen wir nicht ignorieren. Man muss hier auch bedenken: Wir diskutieren nur über Werberegulierungen. Hersteller können ihre Produkte noch bewerben – sofern der Gehalt an Zucker, Fett und Salz Grenzwerte nicht übersteigt. Und natürlich sollten Eltern ihre Kinder zu gesunder Ernährung anregen. Aber in einer Zeit, in der alle berufstätig sein müssen und wenig Zeit haben, haben sie auch das Recht, dass die Gesellschaft ihnen gute Bedingungen für die Kinder schafft. Einige kluge Unternehmen ändern deshalb schon ihre Rezepturen.


Quellen:

  • BMEL: Mehr Kinderschutz in der Werbung: Pläne für klare Regeln zu an Kinder gerichteter Lebensmittelwerbung. https://www.bmel.de/... (Abgerufen am 01.09.2023)
  • Smith Taillie L, Bercholz M, Popkin B: Changes in food purchases after the Chilean policies on food labelling, marketing, and sales in schools: a before and after study. https://www.thelancet.com/... (Abgerufen am 01.09.2023)
  • WHO: Policies to protect children from the harmful impact of food marketing: WHO guideline. https://www.who.int/... (Abgerufen am 01.09.2023)
  • Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie e.V.: Auswirkungen Werbeverbote auf Medien, Kultur und Sport . https://lieber-mündig.de/... (Abgerufen am 01.09.2023)
  • Foodwatch e. V.: Kindermarketing für Lebensmittel, Freiwillige Selbstverpflichtungen der Lebensmittelwirtschaft auf dem Prüfstand. https://www.foodwatch.org/... (Abgerufen am 01.09.2023)
  • Foodwatch e. V.: Offener Brief an die FDP-Parteispitze: Kinderschutz in der Lebensmittelwerbung unterstützen!. https://www.foodwatch.org/... (Abgerufen am 01.09.2023)
  • Foodwatch e. V. : Umfrage: Deutliche Mehrheit befürwortet Werbeschranken für ungesunde Lebensmittel. https://www.foodwatch.org/... (Abgerufen am 01.09.2023)