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Wo ist mein Baby? Wenn Dana Algül an die Untersuchung bei ihrer Frauenärztin im Juli vor sechs Jahren denkt, schießt sofort diese Frage in ihren Kopf. Sie war in der zehnten Woche schwanger und voll Vorfreude auf ihr zweites Kind. Dana Algül freute sich darauf, im Ultraschall das pochende Herzchen zu sehen. Sie hatte ihre dreijährige Tochter dabei, um ihr das Baby im Bauch zu zeigen. Doch auf dem Monitor war nur die Fruchthöhle zu sehen, kein schlagendes Herz. „Ich wusste sofort, was das bedeutet. Und doch ­habe ich immer wieder gefragt: ‚Wo ist mein Baby?‘“, erzählt sie.

Die Frauenärztin ließ ihr keine Zeit zum Nachdenken. Schon für den folgenden Tag vereinbarte sie für Dana Algül einen Termin zur Ausschabung der Gebärmutter. „,Damit das Baby nicht weiter dahinsickert‘, sagte die Ärztin. Ich wusste nicht, was sie meinte, aber es klang schrecklich“, erzählt ­Dana Algül. Sie nahm die Überweisung, aber mit jeder Minute wuchs ihr Unbehagen.

Dana Algül ist mit ihrer Erfahrung nicht alleine. „Jede fünfte bis sechste Frau erlebt mindestens einmal in ihrem Leben eine Fehlgeburt, häufig vor der zehnten Woche“, sagt Dr. Jana Maeffert, Frauenärztin und Geburtshelferin aus Berlin. Sie hält regelmäßig Fortbildungen für Gynäkologinnen und Gynäkologen zum Thema gestörte Frühschwangerschaft. Häufig handelt es sich dabei um eine verhaltene Fehlgeburt: Der Embryo zeigt keine Lebens­zeichen mehr, befindet sich aber noch in der ­Gebärmutter. Weil äußerliche Symptome fehlen, erfahren die Frauen bei bei einem Routine-Ultraschall davon – entsprechend groß ist der Schock.

Fehlgeburt: Kein Grund für eine schnelle OP

„Wenn der Embryo abgestorben ist, werden bestimmte Hormone weniger ausgeschüttet. Bis die Gebärmutter mit der Ablösung der Schleimhaut reagiert, dauert es aber“, erklärt Jana Maeffert. Bei 60 Prozent der Frauen, die abwarten, tritt die Blutung etwa zwei Wochen danach ein, nach sechs Wochen bei 80 Prozent der Betroffenen. Hierzu­lande kommt es oft nicht dazu, da häufig eine schnelle Entfernung des Embryos durch eine Operation empfohlen wird.

„Im Vergleich zu vielen anderen europäischen Ländern wird in Deutschland zu rasch zu einem operativen Vorgehen geraten“, kritisiert Jana Maeffert. Sie ist überzeugt: „Viele Frauen würden ein abwartendes oder medikamentöses Vorgehen wählen, werden jedoch oft nicht über diese Möglichkeiten aufgeklärt.“ Stattdessen folgt eine Operation: entweder eine Curettage (Ausschabung des Gewebes) oder eine Saugcurettage (Absaugung). Beides Routineeingriffe, aber vor allem die Curettage geht mit Risiken einher. Verletzungen und Verklebungen an der Gebärmutter können die Folge sein und bei weiteren Schwangerschaften Probleme bereiten.

Jana Maeffert sagt: „Ärztinnen und Ärzte vermitteln bei einer verhaltenen Fehlgeburt oft das Gefühl, dass schnell gehandelt werden muss. Doch es besteht kein Grund zur Eile.“ Ein Abwarten gehe nicht mit einem erhöhten Infektionsrisiko einher. „Nur selten ist ein operatives Vorgehen notwendig, für die Mehrheit ist die Situation nicht gefährlich“, erklärt sie. Im Gegenteil: Schnelles, übereiltes Handeln könne Nachteile mit sich bringen und etwa die emotionale Verarbeitung erschweren.

Die Fehlgeburt als emotionale Ausnahmesituation

Hebamme Cornelia Klemm kann dem nur zustimmen: „Viele Ärzte und Ärztinnen möchten die Fehlgeburt schnell beenden, um der Frau zu helfen, damit sie mit dieser Erfahrung abschließen kann. Für die meisten Frauen ist es aber wichtig, dass sie Zeit und Raum bekommen und in dem Prozess selbst entscheiden können“, beobachtet sie. Im Geburtshaus in Diez bei Koblenz begleiten sie und ihr Team Frauen bei einer Fehlgeburt. „Das ist eine emotionale Ausnahmesituation für Frauen und es braucht gute Begleitung dafür“, sagt Cornelia Klemm.

Dana Algül sagte ihren OP-Termin ab, ohne zu wissen, was genau auf sie zukommen würde. Sie ­suchte Rat bei Lioba Drott, ihrer Hebamme aus ­ihrer ersten Schwangerschaft, und fand bei ihr die erhoffte Hilfe. „Es geht nicht um besser oder schlechter. Jede Frau muss ihren Weg finden. Das klappt nur, wenn sie informiert ist“, sagt Drott, die im Geburtshaus von Cornelia Klemm arbeitet. „­Eine frühe Fehlgeburt ist immer noch ein Tabu.“ Den Frauen falle es schwer, darüber zu sprechen und sich Unterstützung zu suchen. „Als Hebamme ist es meine Aufgabe, die Frauen gut zu informieren und sie bei ihrer kleinen Geburt zu begleiten.“

Es gibt Alternativen zur Ausschabung

Alternativ zur Operation können Medikamente gegeben werden. „Die Kombination der Wirkstoffe Mifepriston und Misoprostol ist eine gute Option, wenn man weder abwarten noch eine Operation möchte“, sagt Jana Maeffert. Die Medikamente lösen Kontraktionen der Gebärmutter aus, sodass sie das Gewebe ausstößt. „Ein medikamentöses Vorgehen hat den Vorteil, dass sich der Prozess besser planen lässt und die Frau nicht von den Blutungen überrascht werden kann“, erklärt die Frauenärztin. Beide Medikamente sind für die Behandlung einer Frühgeburt nicht zugelassen, werden im „Off-Label-Use“ – außerhalb der zugelassenen Anwendung – eingesetzt. Im Frühling 2021 wurde zudem ein Importstopp für das Präparat Cytotec, das Misoprostol enthält, erlassen. Hintergrund waren Falschanwendungen bei der Geburtseinleitung, die zu heftigen Nebenwirkungen geführt hatten. „Für Geburtseinleitungen gibt es mittlerweile eine Alternative, in der das Miso­pros­tol niedriger dosiert ist. Bei verhaltenen Fehlgeburten kann es nicht verwendet werden, weil die Dosis dafür zu gering ist“, sagt Jana Maeffert.

Zeit zum Abschiednehmen

Für viele Eltern ist die Be­erdigung ein wichtiger Schritt des Abschiednehmens. Viele Kliniken bieten auch schon bei einer frühen Fehlgeburt Sammel­bestattungen an. In ­einigen Bundesländern sind auch in­­dividuelle Bestattungen möglich. Allerdings ist das Bestattungsrecht Ländersache. Ob ein Anrecht auf ­eine Be­stattung besteht, erfahren Sie
über die Initiative Regebogen "Glücklose Schwangerschaft e.V.".

Dem Abschied Raum geben

Dana Algül wollte sich in Ruhe von ihrem Baby verabschieden. Sie machte in ihrem Alltag weiter, ein wenig ruhiger und langsamer. Ein Notfallset an dicken Binden trug sie immer bei sich. Zwei Wochen nach dem Frauenarzttermin spürte sie Krämpfe im Unterleib.

Die Schmerzen beginnen oft allmählich, wie bei einer Geburt. Typisch: Die Blutungen setzen plötzlich und heftig ein und können Gewebeteile und Blutklümpchen enthalten. „Das kann beängstigend sein. Für Laien ist es schwer zu erkennen, ob die Blutung noch im Rahmen ist“, sagt Lioba Drott. Sie rät betroffenen Frauen, sich von einer Hebamme, die für sie in Rufbereitschaft ist, begleiten zu lassen. Auch bei einer Fehlgeburt übernehmen die Krankenkassen die Kosten für die Hebammenhilfe. Nach vier Stunden nimmt die Blutung deutlich ab. Ist dies nicht der Fall oder treten starke Schmerzen, Schwindel oder Übelkeit auf, sollte die Mutter in die Klinik. „Oft kann man abwarten und das Schwangerschaftsmaterial geht noch ab“, erklärt Jana Maeffert. Ist das nicht oder nicht vollständig der Fall, wird doch eine Absaugung notwendig.

Dana Algül erinnert sich an heftige Blutungen und Schmerzen. „Es war wie bei einer Geburt. Ich habe meinem Körper vertraut“, sagt sie. Beim Erzählen stockt sie immer wieder und schluckt. „Es war ein trauriges und schönes Erlebnis zugleich.“ Der Nachsorgetermin zeigte, dass alles Gewebe abgegangen war. „Ich hätte direkt wieder schwanger werden können. Aber ich brauchte meine Trauerzeit“, erzählt sie. „Eine Fehlgeburt zu verarbeiten dauert“, sagt Lioba Drott. Die Blutungen hören in der Regel nach drei bis vier Wochen auf, die emo­tionale Verarbeitung hält an. „Für viele Frauen ist es entlastend zu wissen, dass ihr Körper die Situation alleine bewältigt hat“, ergänzt Jana Maeffert.

Auch für Dana Algül war dies wichtig: „Dass ich mein Baby geboren habe, hat mir beim Abschiednehmen geholfen.“ Ein halbes Jahr später eilt sie zu ihrer Hebamme mit der Nachricht: „Ich bin schwanger!“ Zwischen die Vorfreude mischte sich in den ersten Wochen die Sorge, es könne zu einer erneuten Fehlgeburt kommen. Je mehr ihr Bauch wuchs, umso entspannter wurde sie – und brachte neun Monate später ihren kleinen Sohn zur Welt.

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