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Frau Clemm, wieso werden Sexualstraftäter so selten verurteilt?

Grundsätzlich gilt in einem Rechtsstaat die Unschuldsvermutung. Und das ist gut so. Bei Sexualdelikten gibt es oft keine äußerlichen Verletzungen. Spermaspuren etwa beweisen, dass es sexuelle Handlungen gab, nicht, dass diese nicht einvernehmlich waren. Häufig haben wir vor Gericht eine Aussage-gegen-Aussage-Konstellation, der Täter bestreitet die Tat, die die Verletzte behauptet. Das geht im Zweifel zugunsten der Angeklagten aus – zu oft, weil Gerichte grundlos an den Aussagen der Frauen zweifeln. Häufig geschieht dies bei Verletzten, die nicht in das gängige Opferklischee passen, oder bei Menschen mit Behinderungen oder solchen, die mit rassistischen Vorurteilen belastet werden.

Können Sie überhaupt dazu raten, Anzeige zu erstatten?

Ich rate weder zu noch ab. Ich kläre auf, was in einem Prozess auf die Betroffenen zukommen kann und wie belastend das ist. Klar ist aber: Wenn nicht angezeigt wird, wird ein Täter nicht bestraft. Und fühlt sich sicher.

Müssen wir als Gesellschaft hin­nehmen, dass man Sexualstraf­taten so schwer verurteilen kann?

Wir dürfen nicht hinnehmen, dass es so viel geschlechtsbezogene Gewalt gibt. Doch die ist leider in unserer patriarchalen Gesellschaft tief verankert. Frauen lernen von klein auf, dass sie verletzlich sind und es ihre Verantwortung ist, sich vor sexualisierter Gewalt zu schützen. Dabei sind ja die Männer verantwortlich für die Gewalt, sie müssen so erzogen werden, dass sie nicht gewalttätig werden und Grenzen anderer wahren.

Christina Clemm, Fachanwältin für Strafrecht, vertritt unter anderem Menschen, die sexuelle Gewalt erlebt haben.

Christina Clemm, Fachanwältin für Strafrecht, vertritt unter anderem Menschen, die sexuelle Gewalt erlebt haben.

Wie äußern sich patriarchale Strukturen in den Verfahren?

In den Ermittlungsbehörden gibt es wenig Wissen, wie sich Opfer von Sexualdelikten verhalten und was Täterstrategien sind. Die Sichtweisen der Behörden sind von Vergewaltigungsmythen geprägt, die dem echten Tatgeschehen oft nicht gerecht werden.

Was sind Vergewaltigungsmythen?

Das sind Vorstellungen, wie sich „echte Opfer“ zu verhalten haben, etwa dass sie schreien oder sich körperlich wehren. Aber das tun viele Betroffene nicht. Ein weiterer Mythos ist, „echten Opfern“ wäre sofort klar, dass sie vergewaltigt wurden, sie würden sofort jemanden ins Vertrauen ziehen und Anzeige erstatten. In der Realität geben Opfer sich häufig selbst die Schuld, versuchen erst mal alleine klarzukommen und brauchen etwas Zeit, um zu realisieren, was geschehen ist. Auch Vorstellungen, dass Täter etwa nicht erkennen könnten, wenn ihr Gegenüber Nein sagt oder weint, sie wegdrückt etc., folgt solchen Fehlannahmen.

Was sollte sich ändern?

Viel. Einige spanische Regelungen könnten Vorbild sein, etwa dass Verfahren schneller geführt werden und Gewaltschutzanordnungen besser überprüft werden. Wir brauchen eine bessere Ausbildung bei Polizei und Justiz und mehr Frauenhausplätze – um nur ein paar Maßnahmen zu nennen. Vor allem brauchen wir ein Umdenken und den gemeinsamen Willen, diese Gewalt nicht länger hinzunehmen.