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Mindestens zehnmal hat er sich in den letzten drei Stunden die Hände gewaschen, gründlich wie ein Chirurg vor der OP. Ausgerechnet Jonas! Dabei war der Fünfjährige bis vor vier Wochen alles andere als ein Hygieniker. Erste Zeichen für ­eine Zwangsstörung? Die dreijährige ­Lina aus der gleichen Kindergruppe in Frankfurt stottert. Schnell zum Logopäden? Und Max (4) verlässt seit ein paar Tagen nur mit Batman-Kostüm das Haus. Wenn es kalt ist, baumelt der schwarze Umhang über seiner Daunenjacke. Irgend­wie auch nicht ganz normal, findet seine Mutter.

Eltern sind heute unsicherer als früher

Der Grat zwischen lustig und auffällig scheint schmal. Manche Angewohnheiten der Kleinen machen Eltern deshalb nervös. Was, wenn die Seltsamkeiten sich auf die Entwicklung der Kinder auswirken? Wie lange können Eltern warten, bevor sie aktiv werden? "Mütter und Väter sind heute definitiv verunsicherter als früher", sagt Professor Harald Bode, ehemaliger Leiter des Sozial­­pädiatrischen Zentrums des Universitätsklinikums Ulm.

Prof. Dr. med. Harald Bode leitete die Sektion Sozialpädiatrisches Zentrum und Kinderneurologie am Universitätsklinikum Ulm

Prof. Dr. med. Harald Bode leitete die Sektion Sozialpädiatrisches Zentrum und Kinderneurologie am Universitätsklinikum Ulm

Resultat: Sehr viele Therapien

Das Resultat: Manche Kinder haben schon vor dem ersten Laufrad ihren ersten Logopäden, Krankengymnasten, Psychologen oder Ergotherapeuten. Wenn ein Baby nicht rechtzeitig krabbelt, kommt es eben zur Physiotherapie. Weil eine Dreijährige nicht schön genug malt, soll der Ergotherapeut nachhelfen. Auswertungen von Krankenkassendaten zeigen: Ärzte verschreiben Kindern seit Jahren sehr häufig Therapien.

In den letzten zehn Jahren stieg die Zahl der diagnostizierten Entwicklungsstörungen bei Kindern zwischen fünf und sieben Jahren um 26,5 Prozent, so der Heilmittelbericht 2018 der AOK. Zwar bekamen nicht alle eine entsprechende Behandlung verordnet, was laut dem Bericht für ein genaues Abwägen der Ärzte spricht. 2017 erhielten 16,9 Prozent der AOK-versicherten Kinder zwischen fünf und sieben Jahren eine Heilmitteltherapie aufgrund einer Entwicklungsstörung. Der Verordnungsanteil lag in den Jahren 2011 bis 2015 mit bis zu 17,9 Prozent deutlich höher und ist seitdem zurückgegangen.

Allerdings: Im Durchschnitt erhielten die Kinder 24,6 Behandlungen pro Patient. Dieser Wert liegt über dem Durchschnitt von 21,3 Behandlungen aller AOK-Versicherten. Die Experten des Wissenschaftlichen Instituts der AOK mahnen im Bericht an, die Kinder zeitlich nicht zu stark zu belasten.

Dr. med. Ingo Spitczok von Brisinski leitet die Kinder- und Jugendpsychiatrie der LVR-Klinik in Viersen

Dr. med. Ingo Spitczok von Brisinski leitet die Kinder- und Jugendpsychiatrie der LVR-Klinik in Viersen

Ansprüche an Kinder extrem hoch

Logisch: Manches Problem verschwindet nicht von selbst – und dann ist es gut, wenn Eltern, Ärzte und Therapeuten rechtzeitig eingreifen. Und selbstverständlich wollen alle Mütter und Väter für ihren Nachwuchs die besten Startchancen. Nur: "Die gesellschaftlichen Ansprüche an Kinder sind heute oft hoch", sagt Kinder- und Jugendpsychiater Dr. ­Ingo Spitczok von Brisinski von der LVR-Klinik Viersen. "Heute versuchen Erwachsene oftmals, aus Kindern möglichst früh das Optimum herauszuholen."

Er sagt Sätze, die Eltern so vermutlich lieber nicht hören wollen: "Kinder werden nicht perfekt, nur weil wir sie perfekt therapieren." Und: "Es ist völlig normal, dass nicht alle Kinder Superleistungen erbringen und später studieren. Wir sind nicht ­­alle gleich."

Prof. Dr. med. Stephan Bender ist Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Uniklinik Köln

Prof. Dr. med. Stephan Bender ist Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Uniklinik Köln

Auffälligkeiten wachsen sich häufig aus

Trotzdem bedenklich: In den Schuleingangsuntersuchungen gelten 33 Prozent der Kinder als auffällig. Sprachliche Schwächen, Verhaltensprobleme und motorische Ungeschicklichkeit stechen den Schulärzten ins Auge. Bei Lina, Max und Jonas hätten die Untersucher vielleicht auch noch einmal genauer nachgefragt und womöglich einen Vermerk auf dem Bogen gemacht. Doch Spitczok von Brisins­ki beruhigt: "Nicht jedes Kind, das die Norm bei dieser Untersuchung nicht erreicht, muss behandelt werden." Er rät deshalb zur Gelassenheit. Und dann sagt er einen Satz, den Eltern lieben werden: "Vieles wächst sich aus."

Also abwarten. Durchatmen. Aber wie lange? "Wenn es nichts ist, was gefährlich ist, kann man es erst mal ein halbes Jahr beobachten", so Spitczok von Brisinski. "Häufig beruhigt Eltern auch der Vergleich mit anderen", erklärt Kinderarzt Bode. Mit einem leibhaftigen Batman spazieren zu gehen sorgt zwar für reichlich Gesprächsstoff auf der Straße, ist aber zunächst noch kein Grund, nervös zu werden. Vor allem dann nicht, wenn man die Nachbarstocher als schweinchenrosa Lillifee erspäht. "In dem Alter haben Kinder häufig noch ein magisches Denken und Allmachts­fantasien, die aber meist wieder verschwinden", erklärt Professor Stephan Bender, Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Uniklinik Köln.

Schwere Störungen früh behandeln

Ist mein Kind nur etwas schüchtern – oder schon fast autistisch? Ist es zu lebhaft – oder hat es ­eine Aufmerksamkeitsstörung? ­Diese Grenze ist für Laien oft schwer zu erkennen. "Gerade wenn es um tief greifende Entwicklungsstörungen geht, sollte man keine Zeit verlieren", sagt Spitczok von Brisinski. Dazu gehört zum Beispiel Autismus. Auch schwere Verhaltensauffälligkeiten müssen behandelt werden. "Solche seelischen Störungen wirken sich fatal auf die Entwicklung aus. Je früher man da mit der Therapie beginnt, umso besser sind die Aussichten", sagt Bender. "Aber echte neuropsychiatrische Probleme, wie zum Beispiel auch ADHS, treffen nur wenige Prozent der Kinder." Bei der Mehrheit der Fälle können Eltern und Kinderärzte also das ­Kleine erst mal beobachten. In den Vorsorgeuntersuchungen U10 und U11 untersuchen Kinderärzte mittlerweile auch hinsichtlich Verhaltensauffälligkeiten.

Eltern können Sprachentwicklung selbst fördern

Auch sprachliche Auffälligkeiten wie Stottern "geben sich häufig wieder", sagt Bode. In den Vorsorgeuntersuchungen achten Kinderärzte ohnehin darauf, wie die sprachliche Entwicklung verläuft. Das ist wichtig, weil Defizite in vielerlei Hinsicht Nachteile bringen: in der Schule, im Kontakt mit anderen, für das Selbstwertgefühl. Fällt bei den Vorsorgeuntersuchungen eines Zwei- oder Dreijährigen auf, dass er das übliche Sprachniveau noch nicht erreicht hat, können Eltern zunächst entspannt die Fähigkeiten fördern: indem sie beispielsweise mit ihrem Kind viel sprechen und ihm vorlesen. Es gibt keinerlei Hinweise, dass ein ansonsten gesundes Kind mit verzögerter Sprach­entwicklung in diesem Alter von einer logopädischen Therapie profitiert, so Bode.

Ergotherapie wird zu häufig verschrieben

Nach Meinung von Ingo Spitczok von Brisinski wird Ergotherapie zu häufig verschrieben: "Für viele Auffälligkeiten ist die Wirksamkeit dieser Therapie nicht bewiesen." Und einem Vierjährigen, der einfach nicht gern malt, nützt die beste Ergotherapie nichts. "Ist ein Kind auffällig, ­würde jeder Kinderarzt ohnehin sofort die entsprechenden Maßnahmen verordnen", meint Kinderneurologe Harald Bode. Er rät Müttern und Vätern dazu, sich ­­gelegentlich ­einen anderen Blick auf die kleinen Unperfektheiten des Nachwuchses zu gönnen: Man könne sich, so Bode, "auch über ein Kind mit Ecken und Kanten freuen".

Das zahlt die Krankenkasse

  • Psychotherapien: Die Verhaltenstherapie ist in ihrer Wirksamkeit am besten belegt. Je jünger die Kinder, desto höher ist der Anteil der Elterntrainings. Psychoanalytische und tiefenpsychologisch fundierte Therapien werden bei jüngeren Kindern als Spieltherapie durchgeführt, bei älteren Kindern und Jugendlichen in Form von Gesprächen. Der Psychologe oder Psychiater beantragt die Kostenübernahme für längere Therapien bei der Krankenkasse, bei kürzeren Psychotherapien ist dies nicht mehr nötig.
  • Physiotherapie: Die Behandlung eignet sich besonders für Bewegungsstörungen, etwa bei Problemen beim Laufenlernen oder Muskelerkrankungen. Die Kassen zahlen, wenn ein Arzt die Therapie verschreibt.
  • Ergotherapie: Hier üben kleine Patienten etwa Verhaltensweisen, mit denen sie den Alltag leichter bewältigen können. Oft werden verschiedene Sinne gereizt. So können beispielsweise Entwicklungsverzögerungen und motorische Störungen behandelt werden. Auch die Ergotherapie wird von der Kasse bezahlt, wenn der Arzt sie verordnet.
  • Logopädie: Mundmotorik schulen, Wörter besser aussprechen, zu stottern aufhören: Die Therapie eignet sich für Sprach-, Stimm- und Schluckstörungen. Wenn Eltern anschließend mit den Kindern üben, sind die Erfolgsaussichten sehr gut. Die Kassen übernehmen die Therapie nach ärztlicher Verschreibung.

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