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Frau Prof. Dreyer, als Eltern erwarten wir von einer Kita gute Bildung und eine liebevolle Betreuung. Die Realität sieht anders aus. Wie schlimm ist die Lage in den Kitas?

Die Erzieherinnen und Erzieher geben jeden Tag ihr Bestes. Aber die Situation in den Kitas hat sich in den vergan­genen Jahren drastisch verschlechtert. Es ist fast nicht mehr möglich, die Kinder gut in ihrer Entwicklung zu fördern und zu ihrem Wohl zu handeln. Das besorgt mich sehr. Auch die Kita-Studie des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, für die mehr als 1100 Fachkräfte befragt wurden, zeigt die schlechte Lage in den deutschen Kitas.

Zu welchen Ergebnissen kommt die Studie?

Wir sehen, dass die Arbeitsbelastung für die Fachkräfte in den Kitas enorm gestiegen ist. Es fehlt an Personal. 60 Prozent der befragten Erzieherinnen und Erzieher sagen, dass sie nicht angemessen auf die Bedürfnisse der Kinder reagieren können. Sie können ein weinendes Kind nicht sofort trösten und einem einzelnen Kind oft nicht so viel Zuwendung und Nähe geben, wie es benötigt.

Welche Folgen hat die ­mangelhafte Betreuung?

Die derzeitige Situation in den Kitas sorgt für einen denkbar schlechten Start ins Leben. Das betrifft die geistige, die sprachliche, die emotionale und die soziale Entwicklung. Die Kinder erlernen einen geringeren Wortschatz, mehrsprachige Kinder können im Deutschen weniger gefördert werden. Bei den unter Dreijährigen, die noch besonders verletzlich sind, sind die Effekte sogar noch eindeutiger erkennbar als bei den über Dreijährigen. Eine schlechte Betreuung kann Verhaltensstörungen begünstigen, beispiels­weise Trennungs- und Verlustängste fördern und zu frühkindlichen Regulationsstörungen und sozialem Rückzug führen.

Ist die Situation in allen Kitas so schlecht?

Die Studie zeigt regionale Unterschiede. Besonders schlecht sind die Bedingungen in Kitas in sozioökonomisch schwächeren Regionen. Dort fehlt besonders häufig Personal. Das ist ein Teufelskreis: Gerade in Gegenden, in denen viele Kinder auf Unterstützung angewiesen sind, etwa, weil sie zu Hause nicht so gut gefördert werden können, sind Kitas besonders schlecht ausgestattet. Die Folge ist eine wachsende Bildungslücke. Sie ist so groß, dass sie sich später in der Schule nicht mehr ausgleichen lässt.

Ist auch die Corona-Pandemie mit schuld an dieser Entwicklung?

Diese Probleme gab es schon vor ­Corona. Durch die Pandemie haben sie sich wie durch ein Brennglas verschärft. Die Fachkräfte mussten die gestiegenen Herausforderungen mit wenig Personal und unter schlechten Bedingungen meistern. Doch Corona erklärt nicht alles: Das Kita-System ist seit Jahren chronisch unterfinanziert, eine pädagogisch hochwertige Begleitung der Kinder ist oft gar nicht möglich. Wir erleben eine Abwärtsspirale in der pädagogischen Qualität. Es ist wie mit dem Klima, wir rennen sehenden Auges in die Katastrophe hinein.

Ihre Schilderungen ­klingen ­dramatisch. Werden Ihre ­Warnungen in der Politik gehört?

Ich bin eigentlich eine Optimistin und sehe immer die Chancen in einer Situation. Aber das fehlt jetzt. Es ist zum Verzweifeln. Es gibt wissenschaftliche Empfehlungen, wie man Kita-Kindern eine gute Betreuungsqualität bieten kann, aber sie werden nicht umgesetzt. Inzwischen steht das Kita-System vor einem Kollaps.

Was muss jetzt passieren?

Die Maßnahmen sind längst bekannt: Es kommt auf die Gruppengröße, den Personalschlüssel und die Ausbildung des Personals an. Sind die Gruppen klein und gibt es genügend Personal, können die Erzieherinnen und Er­zieher individuell auf die Bedürfnisse der Kinder reagieren und sie gezielt in ihrer Entwicklung fördern. Gerade für Kinder unter drei Jahren ist das extrem wichtig. Sie brauchen eine liebevolle und zugewandte Betreuung, das ist die Grundlage für die Bildung in der Kita und auch für das weitere Leben.

Ganz konkret: Wie viele Erzieherinnen und Erzieher braucht es?

Bei Gruppen mit Kindern unter drei Jahren wird ein Personalschlüssel von 1:3, also drei Kinder auf eine Fachkraft, empfohlen. In altersgemischten Gruppen mit Kindern bis sechs Jahre liegt der Wert bei 1:7,5. Diese Empfehlungen wurden wissenschaftlich erarbeitet. Die Realität ist meilenweit davon entfernt. Laut Schätzungen fehlen im Jahr 2025 circa 179 000 pädagogische Fachkräfte – und das ist die konservative Pro­gnose. In den westlichen Bundesländern ist der Mangel besonders groß.

Woran scheitert es, hier Lösungen zu finden – an mangelndem Willen oder fehlt es „nur“ an Geld?

Es braucht ganz dringend mehr Geld, um den akut drohenden Zusammenbruch des Kita-Systems abzuwenden. Und es braucht mehr Mut, um auf politischer Ebene diese Investitionen zu tätigen. Uns muss klar sein: Wir ge­fährden die Zukunft der Kinder. Die Folgen für Kinder, Fachkräfte, Eltern und die gesamte Gesellschaft sind auch heute schon deutlich – etwa durch die Zu­nahme von psychischen Auffälligkeiten bei Kindern oder die wachsende Bildungslücke.

Sie fordern als eine wichtige Maßnahme gegen den drohenden Kollaps mehr akademisch gebildetes Personal. Woher soll das kommen?

Assistenzmodelle und Seiteneinstiegsprogramme, die heute oft Realität sind, können nur eine kurzfristige Lösung sein. Wir müssen langfristiger denken.Für die Qualitätsentwicklung in den Kitas ist wichtig, dass wir mehr akademisch qualifizierte Fachkräfte gewinnen. Ganz wichtig ist auch die Frage, wie wir Fachkräfte halten können. Da geht es um bessere Rahmenbedingungen, um Fortbildungen und darum, Erzieherinnen und Erzieher besser begleiten zu können. Andererseits müssen wir langfristig für eine bessere Ausbildung und Qualifizierung der Fachkräfte sorgen. Das kann das Studium der Kindheitspädagogik sein oder eine Fortbildung, etwa zur Sprachförderkraft.

Kann man sein Kind angesichts der schwierigen Lage noch ruhigen Gewissens in eine Kita geben?

­Meine Kinder waren sehr früh in einer Kita, und ich bin eigentlich überzeugt von Kitas. In der aktuellen Situation rate ich Eltern, sich die Bedingungen in der Kita genau anzuschauen, wenn sie ihr Kind anmelden.

Wie können Eltern erkennen, ob die Kita ihres Kindes gut ist?

Man kann Gruppengröße und den Personalschlüssel erfragen. Sind mehr als 12 Kinder in einer Krippengruppe? Ver­bringt mein Kind den ganzen Tag mit vertrauten Personen? Wechselt das Personal häufig? Wie ist das pädagogische Konzept? Wie geht die Kita damit um, wenn Per­sonal erkrankt? Für emp­findliche Kinder ist vielleicht eine kleine Tagespflegegruppe besser geeignet als eine große Kita-Gruppe. Es ist wichtig, auf die Signale des Kindes zu achten.

Auf welche Zeichen kann ich bei meinem Kind achten?

Geht Ihr Kind gern in die Kita? Lässt es sich von der Erzieherin oder dem Erzieher trösten, wenn es morgens beim Abschied vielleicht kurz weint? Erkundet es neugierig den Raum und interessiert sich für an­dere Kinder? Lässt es sich wickeln und schlafen ­legen? Sind Kinder in der Kita gestresst, spüren das Eltern oft auch zu Hause.

Leider haben Eltern meist nicht die Wahl. Was kann man tun, wenn man spürt, das Kind leidet in der Kita?

Suchen Sie den Austausch mit den Erzieherinnen und Erziehern. Viele Sorgen lassen sich im Gespräch klären. Der Vertrauensaufbau ist wichtig und legt den Grundstein dafür, wie es dem Kind in der Kita geht. Wenn die Eltern kein Vertrauen in die Kita haben, ist es für das Kind schwierig, dort anzukommen und sich wohlzufühlen. Die Studie zeigt, dass durch die Corona-­Pandemie oft auch die Kommunikation mit den Eltern gelitten hat. Hier sind Kitas und Eltern gefragt, wieder in Kontakt zu kommen, etwa durch Feste oder Unternehmungen.