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Die Entscheidung über den besten Behandlungsweg einer Depression hängt davon ab, wie eine Erkrankung sich entwickelt. Denn Menschen mit einer leichten Erkrankung brauchen eine andere Therapie als Menschen, die in der Frühphase einer schweren Psychose stecken.

Eine Forschungsgruppe am Max-Planck-Institut für Psychiatrie und der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Ludwig-Maximilians-Universität in München hat einen Algorithmus entwickelt, der berechnet, ob psychische Auffälligkeiten in eine Psychose münden oder nicht. Ihr Ziel: Schwere Verläufe früh erkennen und gezielt gegensteuern.

Menschliche und künstliche Intelligenzt greifen dabei Hand in Hand. Der Einschätzung von Fachärzt:innen allein ist der Algorithmus klar überlegen. Ein Gespräch mit dem Leiter des Forschungsprojekts PRONIA, Professor Nikolaos Koutsouleris.

Herr Koutsouleris, Ihre Forschungsgruppe hat einen Algorithmus entwickelt, mit dem sich das Risiko für eine Psychose voraussagen lässt. Warum ist das sinnvoll?

Psychose-Kranke nehmen die Realität verändert wahr oder verarbeiten sie anders als Gesunde. Viele von Ihnen haben trotz einer Therapie Wahnvorstellungen, Halluzinationen und Depressionen, weil die Therapie erst sehr spät begonnen hat. Mit solchen Symptomen kann niemand normal leben, geschweige denn arbeiten. Erkennt man eine Psychose, bevor sie ausbricht, lässt sich hier viel besser gegensteuern.

Was ist eine Psychose?

Eine Psychose ist eine schwere psychische Störung. Die Betroffenen erleben die Wirklichkeit als Zerrbild und sie verlieren die Fähigkeit, angemessen zu reagieren. Sie leiden unter Halluzinationen, Wahnvorstellungen, Ängsten oder Denkstörungen. Psychosen können bei psychischen Erkrankungen wie Schizophrenie oder einer schweren Depression auftreten. Auch Drogen oder Vergiftungen können eine Psychose auslösen. Oft geht der Störung eine Vorläuferphase mit nur leichten Symptomen voraus. Erkennt man eine Psychose, bevor sie ausbricht, lässt sich mit der richtigen Behandlung wirksam gegensteuern.

Ist das Erkennen und Einordnen von psychischen Problemen nicht die Domäne von Psychiatern und Psychotherapeuten?

Wir Fachärzte können sehr gut vorherzusagen, ob eine Psychose milde verläuft. Wenn es darum geht, den Übergang von psychischen Auffälligkeiten in eine Erkrankung vorauszusagen, sind wir mit unseren Einschätzungen nicht so erfolgreich. Man stelle sich nun die enorme seelische Belastung für Betroffene vor, die nicht wissen, was mit ihnen passieren wird. Der Algorithmus ermöglicht es, ihnen zu sagen: "Du hast ein Risiko von x Prozent für eine Psychose. Wir helfen dir, dass es nicht dazu kommt oder die Krankheit nicht so schwer verläuft."

Wie genau funktioniert Ihr Verfahren?

Wir analysieren Untersuchungsergebnisse und genetische Daten von Menschen, die wegen ihrer psychischen Probleme Hilfe beim Arzt oder in einer entsprechenden Einrichtung suchen. Die Person beantwortet ein paar einfache Fragen, mitunter brauchen wir noch eine Magnetresonanztomografie vom Gehirn. Aus allen diesen Daten errechnet der Algorithmus schrittweise, wie hoch für diese Person das Risiko ist, in den nächsten zwei Jahren an einer Psychose zu erkranken. Der Algorithmus integriert diese Daten mit der Einschätzung von Psychiatern oder Psychotherapeuten. Dadurch kann die Genauigkeit der Vorhersage deutlich über das Niveau hinaus verbessert werden, das von Fachärzten oder einem rein biologischen Algorithmus erreicht werden kann.

Wie treffsicher ist denn die künstliche Intelligenz?

Der Algorithmus hat eine Genauigkeit von 86 Prozent; bei 14 Prozent der Fälle liegt er daneben. Für eine derart komplexe Erkrankung wie eine Psychose bedeutet das: Wir haben damit ein relativ gutes und sicheres Verfahren zur Verfügung. Stellt man Fachärzten allein die Frage, ob eine bestimmte Person eine Psychose entwickeln wird, liegen die bei rund 27 der Fälle Prozent falsch.

Stichwort genetische Daten: Berücksichtigt der Algorithmus auch die ethnische Zugehörigkeit?

Der Teil des Algorithmus, der die genetischen Daten auswertet, berücksichtigt die ethnische Zugehörigkeit, damit das Ergebnis hiervon unabhängig sein kann.

Reagieren studierte Mediziner:innen und Therapeut:innen eigentlich verschnupft, wenn eine Maschine sie korrigiert?

Der Algorithmus ist eine Korrektur der Einschätzung von Menschen durch Daten, aber im positiven Sinne. Die Einschätzung der Fachärzte steht am Anfang – und alle nachfolgende Schritte optimieren diese. Wir Fachärzte haben ja durchaus einen Trend zu einseitigen Betrachtungen. Hier hilft die algorithmische Vorhersage, denn der Algorithmus gleicht diesen Bias aus. Der Psychose-Algorithmus kombiniert das Beste aus zwei Welten.

Könnte der Algorithmus Fachärzt:innen denn dann ersetzen?

Nein, der Algorithmus ersetzt nicht die Behandlung durch medizinisches Fachpersonal. Ärzte können damit frühzeitig erkennen, welche ihrer Patienten eine Therapie zur Psychose-Prävention benötigen und welche nicht. Der Algorithmus ist auch eine Entscheidungshilfe und gibt Empfehlungen, ob weitere Untersuchungen sinnvoll sein könnten.

Ihr Verfahren ist für junge Menschen zwischen 15- und 40 Jahren gedacht, die wegen psychischer Probleme Hilfe suchen. Wäre mit dem Algorithmus auch ein Screening der Bevölkerung möglich?

Ich sehe ein allgemeines Screening nicht. Es kann ja sein, dass eine Person mit psychischen Problemen trotzdem völlig gesund ist und das auch bleiben wird. Dieser Person zu sagen, nach unserem Algorithmus hast du ein 80-prozentiges Risiko für eine Psychose wäre falsch. Unser Algorithmus wurde in einem bestimmten Kontext und für einen bestimmten Zweck entwickelt. Ihn auf die Allgemeinbevölkerung loszulassen, wäre unethisch.

Herr Koutsouleris, vielen Dank für das Gespräch.

Zur Person: Prof. Dr. med. Nikolaos Koutsouleris ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Geschäftsführender Oberarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität München.