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Wer Stefan Grunwald nur aus der Ferne gehen sieht, dem fällt womöglich gar nichts Besonderes auf. Doch bei genauem Hinschauen erkennt man: Der Speditionskaufmann aus Benningen im Unterallgäu hat eine schwere Behinderung. Als Elfjähriger geriet er mit den Beinen in einen Maishäcksler, er verlor links den Unterschenkel, rechts den Vorfuß. Es folgten: Jahrzehnte mit Prothesen, auf denen er sich mehr schlecht als recht bewegen konnte.

„Amputierte haben häufig das Problem, dass sie sehr oft auf den Boden schauen müssen“, erklärt der österreichische Unternehmer und frühere Wissenschaftsjournalist Rainer Schultheis. „Sie betrachten ihre Prothesen immer noch als Fremdkörper und haben ganz instinktiv Angst davor, dass sie brechen oder dass man stolpert.“

„Wie normales Laufen“

Schultheis‘ Firma Saphenus Medical Technology hat jahrelang an einem Produkt getüftelt, mit dem sich künstliche Gliedmaßen nicht mehr wie Fremdkörper anfühlen. Salopp gesagt habe man die „fühlende Prothese“ entwickelt, erklärt Schultheis und meint damit: Eine Prothese, die eben nicht nur eine steife Verlängerung des Beins nach unten ist, sondern die auch Signale, quasi Empfindungen nach oben an den Körper weitergibt.

Stefan Grunwald war vor zwei Jahren der Erste, der sie tragen durfte – und ist bis heute begeistert. „Das Laufen ist viel sicherer“, schwärmt er. Er spüre nun, ob er etwa mit der Zehenspitze auf einem Stein stehe. Das versehentliche Abrutschen, wie es ihm mit früheren Prothesen immer wieder passiert sei, komme nicht mehr vor. Auch das Gehgefühl sei ein anderes. „Es fühlt sich an wie normales Laufen.“

Socken mit Sensoren

Der Schlüssel dazu liegt in den Socken, in denen Stefan Grunwalds Prothesenfüße stecken. Sie enthalten eine Reihe von druckempfindlichen Sensoren, deren Messungen via Bluetooth nach oben zum Stumpf des Beines gefunkt werden. Der Stumpf steckt in einer Manschette voller kleiner Elektromotoren, sogenannter Aktuatoren. Sie werden von einem Algorithmus gesteuert und erzeugen – abhängig von den Signalen der Sensoren - Vibrationen, die Stefan Grunwald spüren kann. So erkennt er, in welcher Position sich sein Prothesenfuß gerade befindet.

Eine besondere Herausforderung bei der Entwicklung war die Belastung, die die fühlenden Socken aushalten müssen. Auf die Sensoren an der Unterseite wirken schließlich enorme Kräfte, zumal moderne Prothesenfüße in der Regel aus Titan gemacht sind. Für Anwender:innen besteht die Herausforderung vor allem darin, sich an die neuen Reize, die auf ihren Körper einwirken, zu gewöhnen. Einige Monate habe es gedauert, erzählt Stefan Grunwald bis sich sein Gehirn umgestellt hatte und er mit der „fühlenden Prothese“ sicher unterwegs war.

Geholfen hat in seinem Fall auch eine Operation: Dabei wurde der Nerv, der bei Nicht-Behinderten die Empfindungen der Fußsohle ans Gehirn weiterleitet, so umgelegt, dass er nun direkt an der Manschette mit den Aktuatoren anliegt. „Da mein Unfall schon dreißig Jahre her ist, hat man gesagt, wir machen das Komplettprogramm, weil keiner wusste, wie stark meine Nerven geschädigt sind oder nicht“, sagt Grunwald. Die OP sei keine zwingende Voraussetzung, heißt es beim Hersteller, sie mache das Gehgefühl aber intensiver.

Hilfe gegen Phantomschmerzen

Über 50 Patientinnen und Patienten in Deutschland, Österreich und Italien tragen inzwischen solche Sensorsocken wie Stefan Grunwald. Sie bekommen damit nicht nur mehr Bewegungssicherheit: Die fühlenden Prothesen helfen auch gegen die oft quälenden Phantomschmerzen, sagt Hersteller Rainer Schultheis. Die Ursache liege darin, dass es durch die fehlenden Gliedmaßen im Gehirn zu einer Reorganisation im somatosensorischen Kortex komme. „Uns gelingt es, durch das sensorische Feedback diese Reorganisation zurückzudrängen und dass dadurch der Schmerz zurückgeht.“

Das System ist bereits von Krankenkassen in Deutschland, Österreich und Italien erstattet worden. Es zeigt, dass digitale Technik das Leben von Menschen mit Behinderung tatsächlich deutlich verbessern kann. Dabei sind sie nicht der einzige Ansatz, Prothesen smarter zu machen. Der Leiter der Technischen Orthopädie am Universitätsklinikum Heidelberg, Merkur Alimusaj, verweist etwa auf die Entwicklung von Prothesen, die sich quasi über Gedanken steuern lassen. “Und das in Verbindung mit dieser sogenannten ‚Fühlenden Prothese‘, das ist schon sehr spannend und zeigt, dass da einiges geschieht auf diesem Feld.”