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Als Medizinjournalistin stolpere ich immer wieder über überraschende bis wundersame Therapieansätze. Jüngst etwa bei einer Wanderung mit einer Freundin. Seit einer Erkrankung hat sie eine Narbe unterm Schlüsselbein, die sie kaum stört. Durchaus verstört reagierte sie allerdings, als ihr ihre Frauenärztin jüngst anbot, die Narbe zu entstören – mithilfe der Neuraltherapie.

Beschwerden durch Narben

Doch was steckt dahinter? Tatsächlich können sich Narben sehr störend entwickeln. In manchen Fällen hört das Gewebe, das bei der Narbenbildung entsteht, nicht auf zu wuchern. Unschöne Wülste wachsen. Manche Narben führen auch zu Schmerzen. Richtig ist man im ersten Fall bei einem Hautarzt, im zweiten eventuell beim Schmerztherapeuten.

Bei der angeblichen Entstörung spielen solche Beschwerden eine untergeordnete Rolle. Nur eine kleine Narbe? Vielleicht hat sie eine unerwünschte Wirkung?!? Bei diesem Thema taucht man ein in die aus wissenschaftlicher Sicht bedenkliche Welt der „Energiemedizin“ und ihrer Vorstellung von unsichtbaren Meridianen und Energieflüssen. Dass es diese Bahnen gibt, konnte bislang nie nachgewiesen werden.

Narben sollen den angeblichen Energiefluss dennoch empfindlich stören können. Mi­gräne, die jeder Therapie trotzt? Bestimmt liegt es an der Narbe am Knöchel, oder? Haben Sie Tinnitus und eine Kaiserschnittnarbe? Dann ist für den Narbenentstörer die Ursache klar.

Entstören von Narben

Damit die Energie wieder fließt, soll zum Beispiel Yoga oder Akupunktur helfen. Überraschend ist indes der Weg, den die Neuraltherapie einschlägt: Sie nutzt zur Entstörung ein Mittel aus der Medizin – unter Naturheilern eigentlich ein No-Go. Eingesetzt wird vor allem Procain, einst das beliebteste Mittel zur lokalen Betäubung von Schmerzen.

Was man über Procain weiß: Im Gegensatz zu Narben stört es tatsächlich den „Energiefluss“. Das Mittel blockiert nämlich die Weiterleitung elektrischer Signale im Nerv, allerdings nur vorüber­gehend. Wie das behauptete Störfelder auflösen soll? Die Brüder Walter und Ferdinand Huneke, die die Methode ab 1925 entwickelt haben, hatten dazu nichts Überzeugendes zu sagen.

Die Methode fand dennoch Anhänger, vor allem unter Heilpraktikern. Einsatzgebiet: von Haarausfall bis Leberleiden so ziemlich alles. Da Neuraltherapeuten Procain auch gern mal tief ins Körperinnere spritzten, kam es leider zu teils schweren Nebenwirkungen. Die Folge war 2006 das Aus für den breiten Einsatz in der Heilpraktikerpraxis. Gespritzt werden darf Procain dort nur noch direkt unter die Haut. Gerade bei Schmerzen ist ein spürbarer Placeboeffekt zu erwarten. Ein Nachweis, dass die Wirkung darüber hinausgeht, fehlt.

Narben sind Zeichen eines gelebten Lebens. Wenn Sie Ihre Narbe nicht stört: Machen Sie es wie meine Freundin und lassen Sie sich von Theorien zu unbewiesenen Blockaden und Störfeldern ihre eigene Sicht nicht blockieren.

Haben Sie sich auch schon einmal über fragwürdige Therapien gewundert?

Dann schreiben Sie: kritisch-hinterfragt@apotheken-umschau.de

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