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Termine bei Anna Brodersen sind begehrt. So begehrt, dass manche Menschen zu verzweifelten Maßnahmen greifen: „Selbst wenn sie durch meine Website wissen, dass sie außerhalb meines Betreuungsradius wohnen oder dass ich ausgebucht bin, rufen Leute trotzdem an“, sagt Brodersen. „Die Not ist so groß, dass manche sogar versuchen, mich mit unfassbaren Geldbeträgen zu locken – aber selbst mit mehr Geld hat mein Tag nur 24 Stunden.“

Brodersen ist Hebamme, größtenteils freiberuflich. Ihre Arbeit ist eine Dienstleistung, die ständig gefragt, aber selten erhältlich ist. „Ich musste schon viele Leute ablehnen“, sagt sie. „Spätestens ab der 12. Schwangerschaftswoche finden werdende Eltern – zumindest in den Ballungsgebieten – keine Hebamme mehr.“

Brodersen ist nicht die einzige Hebamme, bei der die Anfragen überhandnehmen. Tatsächlich ist es bei vielen Entbindungshelferinnen in Deutschland ähnlich. In der Bundes­republik herrscht Hebammenmangel. Das belegen auch aktuelle Zahlen: Der Deutsche Hebammenverband (DHV) hat auf seiner Seite eine „Landkarte der Unterversorgung“ veröffentlicht. Auf der können Betroffene angeben, dass sie an ihrem Wohnort keine Hebamme gefunden haben. Stand Oktober 2022 waren dort 44 784 Einträge verzeichnet.

Schwierig: Hebamme finden

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Und das ist nicht alles: 2019 arbeiteten in Deutschland etwa 26 000 Hebammen. Geburten gab es in der Bundesrepublik 2020 etwa 773 144. Laut dem DHV betreut fast die Hälfte der im Kreißsaal arbeitenden Hebammen oft drei – teilweise sogar vier – Gebärende gleichzeitig.

Die Zahlen kennt auch Annika Walker. Sie ist Professorin für Angewandte Hebammenwissenschaft an der Hochschule Niederrhein und selbst ehemalige Hebamme. Sie erklärt, dass unter anderem in Kreißsälen die Situation teilweise sehr angespannt ist. Der Grund: Viele kleinere Kreißsäle wurden in den vergangenen Jahren geschlossen. „Dadurch erhöht sich der Druck auf umliegende Kliniken, da dort mehr Geburten stattfinden“, sagt Walker. „Oft werden dafür aber keine neuen Hebammen eingestellt.“ Tatsächlich gab es 1991 laut DHV noch 1186 Kliniken mit Geburtshilfe. 2018 waren es 655.

„Aber auch um eine Hebamme, die sie während der Schwangerschaft und des Wochenbetts begleitet, müssen sich Eltern vielerorts schon früh in der Schwangerschaft kümmern“, sagt Walker. Sie betont die Vorteile einer guten Versorgung: „Studien haben gezeigt, wie positiv sich die individuelle Betreuung und der gesundheitsförderliche Ansatz auf Geburt und Verlauf von Schwangerschaft und Wochenbett auswirken kann“, sagt sie. „Eine gute Versorgung von Schwangeren und jungen Familien mit Hebammenhilfe muss darum jederzeit gewährleistet sein.“

Die Gründe für den Hebammenmangel sind, so Expertin Walker, divers: Unter anderem spielen schlechte Bezahlung und die Arbeitsbedingungen eine Rolle. Rufbereitschaft und Nachtarbeit etwa machen den Beruf fordernd. „Als Hebamme steht man werdenden Eltern auch in schwierigen Situationen professionell zur Seite. Belastend ist dabei jedoch, wenn man Bedürfnissen der Eltern aufgrund des zu hohen Arbeitsvorkommens nicht mehr gerecht werden kann“, sagt Walker. Laut einer Umfrage des DHV könnten sich zwar 2700 Hebammen vorstellen, mehr zu arbeiten oder in den Kreißsaal zurückzukehren. Allerdings nur bei besseren Arbeitsbedingungen.

Hebamme Brodersen kennt den hohen Arbeitsaufwand. In Teilzeit unterstützt sie zusätzlich Kliniken im Kreißsaal-Alltag, die ohne Springerinnen wie sie „am Rande des Wahnsinns“ wären. Sie erinnert sich an einen Fall, bei dem sie, die anderen Hebammen und die Ärztin im Kreißsaal ihr Bestes gegeben haben. Neben einer Frau mit einer sehr schnellen Geburt betreuten sie gleichzeitig eine Frau mit einer Notsituation und eine, bei der alles in Ordnung zu sein schien. Diese Mutter, stellte sich hinterher heraus, hätte sich für ihr persönliches Geburtserleben viel mehr Betreuung gewünscht. „Sie war bitter enttäuscht und hat uns das auch zu verstehen gegeben“, sagt Brodersen. „Mich bei drei gleichzeitigen Geburten nur auf das Naheliegendste konzentrieren zu können und manche Frauen hintanstellen zu müssen, das tut mir in der Seele weh.“

Die Betreuungssituation im Wochenbett ist für Brodersen ebenfalls mangelhaft. Bei ihrer freiberuflichen Arbeit – außerhalb der Geburtshilfe – kann sie zwar Anfragen ablehnen. Dennoch gibt es auch bei ihr immer wieder Zeiten, zu denen besonders viele Kinder zur Welt kommen – und sie jeder einzelnen Mutter so weniger Aufmerksamkeit geben kann.

„Ein Hausbesuch sollte eigentlich etwa 20 bis 30 Minuten dauern“, sagt sie. „Das ist dann aber nicht drin und ich muss die Eltern vertrösten, weil ich einfach noch acht weitere Frauen am selben Tag besuchen muss.“ Kolleginnen erzählen ihr von den Forderungen verzweifelter Eltern, die sich beschweren, dass die Hebamme nachts um drei Uhr nicht ans Telefon geht.

Schwangeren, die eine Hebamme wollen, rät Anna Brodersen, sich zum Zeitpunkt des positiven Schwangerschaftstests auf die Suche zu begeben. Gerade Erstgebärende würden häufig den zweiten Termin in der gynäkologischen Praxis oder die zwölfte Woche abwarten. Das sei jedoch oft zu spät. Doch auch Eltern, die diesen Zeitpunkt verpasst oder von der Schwangerschaft erst später erfahren haben, sollten ihr Glück noch versuchen, rät Brodersen.

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Sie empfiehlt dafür die Suche auf der Seite des Spitzenverbands Bund der Krankenkassen, dem GKV-Spitzenverband. Dort gibt man seinen Wohnort und einen Radius von maximal 25 Kilometern ein. Das entspricht dem Anfahrtsweg, den Krankenkassen zahlen. In Ballungsräumen kann man den Radius auch kleiner fassen. Dann wird eine Hebammenliste mitsamt Kontaktdaten angezeigt. Anschließend kann man jene Hebammen in die engere Auswahl nehmen, die am besten zu den eigenen Bedürfnissen passen.

Bei Angeboten von Laien sollten werdende Eltern laut Brodersen dagegen aufpassen. Dazu zählt die Hebamme etwa Angebote sogenannter Mama-Coaches, Wochenbett-Coaches oder von manchen Doulas. Letztere können Gebärende während der Schwangerschaft begleiten, was eine „wertvolle Unterstützung“ sein kann – allerdings besitzen sie im Normalfall keine medizinische Ausbildung.

Positiv erwähnt Brodersen Online-Angebote, die manche Hebammen anbieten. „Ich habe Kolleginnen, die vieles über Videotelefonate abwickeln und so ganz hervorragende Arbeit leisten“, sagt Brodersen. „Wer vor Ort keine Betreuung findet, kann sich auf jeden Fall über digitale Hebammenbetreuung informieren.“


Quellen: