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Frau Professorin Bauer, wie viel Zukunft, wie viel Gegenwart steckt hier drin: Ein Neugeborenes erhält in der Klinik ein Armband, das Herzschlag, Körpertemperatur, -gewicht und -größe, Schlaf, Kalorienverbrauch und einiges mehr ermittelt. Nach der Entlassung schaltet sich die Hebamme lediglich per App ins Wochenbett. Darin gespeichert sind auch der Mutterpass und Infos zur Geburt.

Prof. Nicola Bauer: Dass sich Men­schen per Smartwatch tracken und etwa ihre Bewegung und ihren Schlaf sowie Körperdaten überprüfen, ist ja längst Alltag. Auch den elektronischen Mutterpass soll es ab diesem Jahr ge­ben, wobei Hebammen nach aktuellem Stand keinen Zugriff darauf haben wer­den. Und dass einige Hebammen sich per App oder Videocall mit Familien verbinden, ist seit Corona auch Realität.

Ist das Szenario denn positiv?

Nein, bezogen auf das Wochenbett wäre es ein Worst­Case­Szenario, der schlimmste Fall, der eintreten könnte. Es bestünde die Gefahr, dass Eltern sich zu sehr auf die Technik verlassen und nur schwer ein eigenes Gefühl für ihr Kind entwickeln. Gleiches gilt für die Hebammen, die die Eltern dabei unterstützen und mit allen Sinnen arbeiten. Zudem: Was bringt mir die Info, dass die Temperatur des Babys nicht stimmt, wenn ich zum Beispiel nicht sehen kann, wie es angezogen ist? Auch setzt die Technik Grenzen.

Welche Grenzen zum Beispiel?

Ich würde sagen, dass alle körper­ lich­diagnostischen Untersuchungen vor Ort gemacht werden müssen. Neh­men wir die Neugeborenengelbsucht, die fast jedes zweite Kind entwickelt. Um die zu erkennen, müsste der per Video übertragene Hautton genau stimmen – was häufig nicht der Fall ist. Aber ich halte es auch für die emo­tionale Begleitung wichtig, Familien im Wochenbett persönlich zu besu­chen. Das Recht der aufsuchenden Hebammenbetreuung, wie wir es in Deutschland haben, ist sehr wertvoll.

Geburtsvorbereitung online Hebamme

Geburtsvorbereitung online ist beliebt

Digitale Angebote von Hebammen für werdende Eltern haben sich in der Pandemie bewährt. Mehr als 60 Prozent der Hebammen wollen auch weiterhin virtuelle Kurse und Beratungen anbieten zum Artikel

Gleichzeitig wissen Sie als Versorgungsforscherin, dass
immer mehr Eltern Probleme haben, eine Hebamme zu finden.

Ja, es gibt einen Hebammenmangel und viele Frauen gehen leer aus, auch wenn wir nicht wissen, wie viele es genau sind. Es gibt keine Hebammen­kammern wie bei Ärztinnen und Ärzten, bei denen sich Hebammen registrieren müssen. Es ist unklar, wie viele Heb­ammen

freiberuflich arbeiten, in wel­chem Umfang sie arbeiten und welche Leistungen sie anbieten. Aber sicher ist: Würden alle Frauen ihr Recht auf eine wohnortnahe persönliche Betreuung einfordern, kämen wir mit den Hebam­men, die wir haben, erst recht nicht hin.

Könnte die Digitalisierung da nicht Abhilfe schaffen?


Sie ist nicht der Heilsbringer. Aber in manchen Kommunen gibt es mittler­weile Hebammenzentralen, die es schaffen, mit schlauen Programmen Eltern­-Anfragen und freie Kapazitä­ten von Hebammen zusammenzubrin­gen. Das spart Zeit und Nerven auf bei­ den Seiten. In den ersten Wochen nach der Geburt muss eine aufsuchende Betreuung gewährleistet sein. In dieser Zeit sind viele Frauen noch sehr müde, haben Geburtsverletzungen, vielleicht eine Kaiserschnittnarbe. Auch ist es wichtig, die Lebenssituation der Fami­lien zu erleben und soziale Signale zu deuten. In dieser Zeit kann das Digitale nur eine Ergänzung sein – für Nachfra­gen zum Beispiel. Danach aber würde ich dafür plädieren, kreativ zu sein.

Was meinen Sie damit?

Das Recht der aufsuchenden Betreu­ung gilt bis zu zwölf Wochen nach der Geburt. Mit Blick auf die knappen Ressourcen könnte man überlegen, Hausbesuche auf die ersten zwei, drei Wochen zu beschränken. Danach könn­ten etwa zentrale Hebammenstütz­punkte in den Kommunen helfen, die die Frauen im Wochenbett aufsuchen. Möglich wären dort auch Gruppenan­gebote – auch digital. Wenn die Kinder vier, sechs Wochen alt sind, haben viele Eltern ähnliche Fragen, die in der Gruppe beantwortet werden können – etwa zum Thema Schlaf oder Stillen.

Zuletzt haben Sie das Angebot und die Akzeptanz digitaler Betreuungsformen untersucht, die während Corona einen Boom erlebten. Wie sehr hat die Pandemie die Digitalisierung bei den Hebammen vorangetrieben?

Sehr stark. 2018 fragten wir für eine andere Studie Hebammen, ob sie sich vorstellen könnten, auch telemedizinisch zu arbeiten. Damals beantworteten dies nur neun Prozent mit Ja und 54 Prozent konnten es sich überhaupt nicht vorstellen. Die aktuelle Studie, die wir mit der Barmer und dem Deutschen Hebammenverband durchgeführt haben, zeigt ein ganz anderes Bild: Mehr als die Hälfte der befragten Hebammen wünschen sich, dass die Möglichkeit der digitalen Betreuung in Schwangerschaft (62,7 Prozent) und Wochenbett (50,4 Prozent) nach Corona bestehen bleibt. Auch die Mütter bewerteten die erfahrene digitale Betreuung als sehr gut. Allerdings finden beide Seiten, dass der Ausbau der digitalen nicht zulasten des Umfangs der aufsuchenden Betreuung gehen darf.

Wie ist denn die Qualität der Online-Angebote einzuschätzen?

Dazu gibt es noch kaum Untersuchungen. Auch wir konnten bislang nicht richtig in die Tiefe gehen. Was in der Befragung zum Beispiel öfter anklang, war, dass die Frauen eine richtige Interaktion und den sozialen Austausch vermisst haben. Das kenne ich auch aus meinen Seminaren an der Hochschule oder dem Yoga-Kurs, den ich privat online besuche. Das Digitale bringt neben technischen eben auch didaktische Fragen und Herausforderungen mit sich. Um einen Kurs online optimal abhalten zu können, bedarf es einer sehr guten Vorbereitung und noch einmal ganz anderer Kompetenzen. Deshalb sehe ich es auch kritisch, dass digitale Betreuungsformen aktuell schlechter vergütet werden als analoge.

In der Pandemie sind auch Start- ups an den Start gegangen, die Schwangeren und Müttern Inhalte zum Beispiel zu Geburtsvorberei- tung oder Rückbildung bieten. Wie blicken die Hebammen darauf?

Viele haben in unserer Umfrage Bedenken geäußert. Einige Krankenkassen haben ihren Versicherten einen kostenlosen Zugang zu den Angeboten ermöglicht und diese stark beworben. Aus Sicht der Kassen kann ich das nachvollziehen, aber ich verstehe auch Hebammen, die in diesen Angeboten eine echte Konkurrenz sehen. Dahinter stehen oft selbst Hebammen, und viele der Inhalte sind wirklich sehr professionell und gut gemacht. Dieses Niveau ist für eine einzelne Hebamme eventuell nur schwer zu erreichen.

Um die knappen Ressourcen zu schonen, regt Nicola Bauer für die Zukunft neue Formen der Betreuung an

Um die knappen Ressourcen zu schonen, regt Nicola Bauer für die Zukunft neue Formen der Betreuung an

Die Digitalisierung betrifft nicht nur die ambulante Versorgung vor der Geburt und im Wochenbett, sondern auch das Krankenhaus. Was verändert sich dort?


In Kliniken gibt es etwa drahtlose CTG-Geräte: Gebärende können sich damit frei bewegen, was positiv für den Geburtsverlauf sein kann. Das CTG fließt per Bluetooth direkt in eine elektronische Patientenakte, die die Dokumentation der Geburt extrem erleichtert. Die Hebamme muss nicht den Kreißsaal verlassen, und die Ärztinnen und Ärzte können bei Fragen auch von der Station aus schnell auf die Akte zugreifen. Das verbessert die Kommunikation und es bleibt mehr Zeit für die eigentliche Betreuung der Gebärenden. Was aber noch weitgehend fehlt, das ist die Schnittstelle zwischen Klinik und ambulantem Bereich.

Was meinen Sie damit?

Zum Beispiel bekommt der Frauenarzt oder die Frauenärztin den Arztbrief aus der Klinik nicht zeitnah oder nur in sehr knapper Form nach der Geburt und die Hebamme, die die Frau im Wochenbett betreut, gar keinen. Die Klinik hat wiederum – ganz banal – mit Mutterpässen zu kämpfen, die handschriftlich ausgefüllt und oftmals kaum zu entziffern sind. Auch deshalb wird bei der Geburtsanmeldung in
der Klinik immer eine Anamnese gemacht, obwohl ja eigentlich schon der Arzt oder die Ärztin der Schwangeren dies gemacht hat.

Wie könnte die Zukunft der Hebammenbetreuung aussehen?


Ich denke, dass die Betreuung von Schwangeren und Müttern immer
ein Stück weit individuell sein muss. Aber ich glaube, dass Hebammen sich breiter aufstellen werden mit einem sinnvollen Angebot aus persönlichen und digitalen Betreuungsformen. Ich halte es für sinnvoll, den Zeitraum der Hausbesuche zu verkürzen, wenn es sie bei den vorhandenen Ressourcen flächendeckend geben soll. Stattdessen sollten mehr Formen der Gruppenberatung entwickelt und von den Kassen auch vergütet werden. Gut wäre es, wenn mehr kommunale Angebote wie Hebammenstützpunkte geschaffen würden, die etwa direkt in belebten Einkaufsstraßen liegen und niederschwellig Familien erreichen.

Wird auch künstliche Intelligenz eine Rolle spielen? Chatbots, die Müttern regelmäßig Fragen stellen, um ihr Risiko für nachgeburtliche Depressionen zu bestimmen, gibt es ja bereits und sie schneiden in Studien gut ab.

Spannendes Beispiel. Postpartale Depressionen können ja auch erst ein, zwei Jahre nach der Geburt auftreten. Also zu einer Zeit, in der die Hebamme in der Regel längst nicht mehr in die Betreuung eingebunden ist. Zudem kann das Risiko einer postpartalen Depression durch einen standardisierten Fragebogen ermittelt werden, den auch Programme beherrschen. Ich könnte mir vorstellen, dass so etwas mehr genutzt wird. Vor allem bei tabuisierten Themen, über die man mit einem Chatbot vielleicht eher spricht als mit Hebamme, Ärztin oder Arzt.

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