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Ein paar Minuten hinsetzen, neue Kraft schöpfen. Für viele pflegende Angehörige sind selbst kurze Verschnaufpausen kaum möglich. Zu viele Sorgen, die im Kopf umherschwirren, zu viele Verpflichtungen, zu viel Bürokratie, die erledigt werden muss. Dabei sind diese Momente wichtig. Sie helfen, selbst langfristig gesund zu bleiben und chronischer Überlastung vorzubeugen. Es lohnt sich, seine Kraftquelle zu finden. Wir haben mit Pflegenden über ihre persönlichen Auszeiten gesprochen –und darüber, wie sie es schaffen, diese auch tatsächlich im hektischen Alltag zu integrieren. Ganz ohne schlechtes Gewissen!

„Sich eigene Oasen schaffen“

Interview Pflegeberaterin Heike Hambsch über den Abschied vom schlechten Gewissen

Frau Hambsch, Warum fällt es pflegenden Angehörigen so schwer, Zeit für sich zu finden?

Wer 24 Stunden mit einem pflegebedürftigen Menschen zusammenlebt, weiß oft gar nicht mehr, wie sich Entspannung anfühlt. Oder was es überhaupt bedeutet, Zeit für sich zu haben. Das müssen viele erst wieder lernen. Denn manche sind so in diesem Hamsterrad gefangen, dass sie gar keine Möglichkeit mehr sehen, sich auch mal Zeit für sich zu nehmen.

Woher kommt dieser Anspruch an sich selbst?

Oft sind es Glaubenssätze, die einen das ganze Leben lang prägen. Viele haben von den Eltern gehört, man solle lieb und perfekt sein. Oder dass man das schon schaffe. Solche Sätze sorgen für ein schlechtes Gewissen. Zum Beispiel, wenn man den Angehörigen in die Kurzzeitpflege bringen will. In diesem Fall kann es helfen, sich ein paar Fragen zu stellen: Ist der Angehörige dort gut versorgt? Habe ich ein gutes Gefühl dabei? Welche Leistungen stehen mir eigentlich zu? Danach sollte man sich die Erlaubnis geben, das auch zu tun. Ganz egal, was die Nachbarin oder die Geschwister dazu sagen.

Was hilft gegen Vorwürfe?

Ich empfehle, Ich-Botschaften zu senden. Zum Beispiel: „Ich fühle mich gerade sehr überfordert und möchte mir deshalb Hilfe holen. Ich glaube, du kannst das nicht beurteilen, weil du nicht in dieser Situation bist.“

Woher weiß ich, was mir guttut?

Pflegende könnten überlegen, was sie früher gerne gemacht haben. Wenn sie gerne spazieren gegangen sind, sollten sie das auch weiterhin tun. Wer gerne Sport gemacht hat, könnte in einen Verein gehen. Es ist wichtig, nicht alles aufzugeben. Sondern sich eigene Oasen zu schaffen.

Hans-Jürgen Wertens, 80 Jahre, aus Düsseldorf

Vor 15 Jahren hat meine Frau Maria die Diagnose Demenz bekommen. Wir sind mittlerweile seit 56 Jahren verheiratet und für mich stand sofort fest, dass ich meine Frau liebevoll begleite. Das klappt sehr gut. Aber nur, weil ich mir im Laufe der Zeit ein Netz aus 13 Engeln aufgebaut habe. Das sind Ergotherapeuten, Demenzbegleiter oder einfach Menschen, die mir mit dem Haushalt und beim Kochen helfen. In der Zeit kann ich mich zum Beispiel um den Bürokram kümmern.

Einmal in der Woche gehe ich in die Kirche. Dort singe ich in einem Chor Volkslieder, eine Stunde lang. Das gibt mir sehr viel Kraft. Außerdem haben meine Frau und ich immer Kunst gemacht. Deshalb nehme ich sie noch immer zum Malkurs mit. Maria malt zwar nicht mehr, aber sie genießt die Atmosphäre trotzdem. Und ich kann mich ganz hin­geben. Ich habe viele Jahre Wellen gemalt und jetzt male ich wellende Herzen. Auch das schenkt mir viel Kraft. Es ist wichtig, diese Wende zu schaffen. Weg von der Traurigkeit, hin zu mehr Lebensfreude. Ich sage immer: am besten kurz und heftig trauern, in die Hände spucken und loslegen.

Marion Holz, 65 Jahre, aus Bad Dürkheim

Meine Mutter ist vor drei Jahren gestorben, sie war dement und ich habe sie vier Jahre lang zu Hause gepflegt. Ich hatte mir damals eine größere Wohnung organisiert und konnte mir vier Monate Pflegezeit nehmen. Danach hat mich eine ganz liebe Pflegerin unterstützt, während ich Teilzeit gearbeitet habe. Wenn sie da war, wusste ich, dass meine Mutter in besten Händen ist. Aber wenn mal eine Fremdbetreuung da war, war ich ständig in Gedanken daheim: Hoffentlich klappt alles, hoffentlich passiert nichts. Am Ende hat mich dann nur noch meine Pflegerin
unterstützt.

Leider sind während dieser Zeit viele so­ziale Kontakte weggebrochen. Manche hatten kein Verständnis und meinten, dass ich viel zu viel mache. Aber ich wollte das so. Ich lese sehr viel englische Literatur und habe mich oft zu meiner Mutter gesetzt und ihr vorgelesen. Dadurch konnte ich abschalten und gleichzeitig meiner Mutter Gesellschaft leisten. Ich habe auch gerne gestrickt oder ein Puzzle gemacht. Außerdem bin ich in ­eine Selbsthilfegruppe gegangen. Zu sehen, wie sich andere pflegende Angehörige organisieren und dass es ihnen ähnlich geht, hat mir sehr geholfen. Ich gehe auch heute noch hin, um mich mit anderen Betroffenen auszutauschen.

Ursula Hofmann, 62 Jahre, aus Esslingen

Unsere jüngste Tochter Anne ist 21 und hat einen seltenen Gendefekt. Sie muss rund um die Uhr betreut werden. Gerade am Anfang war es sehr schwer, weil ich nicht wusste, was auf uns zukommt. Deshalb habe ich auch eine Selbsthilfegruppe für Eltern gegründet – Rückenwind e. V.

Anfangs ist es mir sogar schwergefallen, mich mit einer Tasse Tee auf das Sofa zu setzen und eine Viertelstunde Pause zu machen. Aber durch diese kleinen Auszeiten merkt man irgendwann, dass man mehr braucht. Mir schenkt es Kraft, in den Urlaub zu fahren– ohne Rollstuhl und Windeln. Als Anne zum ersten Mal in der Kurzzeitpflege
war, habe ich ständig darauf gewartet, dass das Telefon klingelt. Hinzu kommt der büro­-
kra­tische Aufwand und dass man den Platz ein Jahr im Voraus buchen muss. Aber mittlerweile habe ich Routine. Das gibt mir ein gutes Gefühl.

Klaus Gill, 67 Jahre, aus Osterrönfeld

Für meine Auszeiten nutze ich gerne kleine Zeitfenster. Wenn ich zum Beispiel morgens Brötchen hole, gehe ich erst mal in Ruhe durch den Laden und wechsle ein paar Worte mit bekannten Gesichtern. Meine Frau hat Multiple Sklerose und kann sich nicht mehr bewegen. Die Diagnose bekam sie im Jahr 1995, als plötzlich ihr Bein gelähmt war. Allerdings haben sich die Beschwerden wieder zurückgebildet und sie hatte kaum Einschränkungen.

Zehn Jahre später hat sich ihr Zustand verschlechtert. 2013 habe ich dann meine Arbeit aufgegeben, um mich um sie zu kümmern. Am Nachmittag habe ich meist anderthalb Stunden für mich. Dann setze ich mich gerne auf die Terrasse, lese oder sehe fern. Ich koche auch sehr gerne. Einmal die Woche bin ich abends beim Bowling. Früher habe ich im Verein gespielt. Das ist aus Zeitgründen leider nicht mehr möglich. Aber das Spielen in Gesellschaft macht mir immer noch großen Spaß. Vor allem weil mich meine Frau dort jederzeit erreichen kann, falls etwas sein sollte.


Quellen: