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Herr Dr. Wettstein, wie alt haben Sie sich heute Morgen beim Aufstehen gefühlt?

Ach, morgens komme ich mir älter vor als im Tagesverlauf.

Ihr echtes und Ihr gefühltes Alter, bitte!

Ich bin 40 und fühle mich wie Mitte 30. Das ist eine Momentaufnahme. Das gefühlte Alter ist auch bei mir nicht statisch: Es steigt mit dem echten Alter an, bleibt aber immer ein wenig drunter. Eine Studie hat gezeigt, dass innerhalb eines Tages Schwankungen von plus/minus drei Jahren möglich sind.

Plausibel. Bin ich gestresst oder krank, fühle ich mich sofort um Jahre gealtert.

Ganz genau. In Studien fühlten sich Personen auch dann älter, wenn sie in traurige Stimmung versetzt wurden. Andererseits nahmen sie sich gleich jünger wahr, wenn man ihnen nach irgendeiner Aufgabe rückgemeldet hat: „Sie waren besser als 80 Prozent Ihrer Altersgenossen.“

Gefühltes Alter oder subjektives Alter: Was genau verstehen Sie darunter?

Anders als das chronologische Alter, das sich qua Geburtsdatum ergibt, beschreibt das subjektive Alter, wie jung wir uns fühlen. Das kann man ganz einfach erfassen, indem man fragt. Nahezu alle Menschen fühlen sich jünger, als sie sind.

Außer Kinder vielleicht.

Stimmt, aber in höheren Altersbereichen ändert sich das.

Schlagartig? Oder ist das ein Prozess?

Wir sehen einen Punkt so um die 40, an dem man sich intensiver mit dem Älterwerden beschäftigt, an dem vielleicht auch die ersten altersassoziierten Verluste bewusst werden.

Will man sich jünger fühlen, damit die bleibende Zeit länger erscheint?

Das ist sicher ein Aspekt, eine Art Abgrenzungsmechanismus.

Im Sinne von: Alt sind nur die anderen?

Genau. Wer sich als jung wahrnimmt, muss sich auch nicht mit negativen Altersbildern auseinandersetzen: den Pflegebedürftigen oder Kranken. Alles noch weit weg.

Kann man beziffern, wie jung sich welche Altersgruppe im Schnitt fühlt?

Einer dänischen Studie zufolge fühlen wir uns etwa 20 Prozent jünger, als wir sind. Wir haben für Deutschland etwas niedrigere Werte ermittelt: Die Befragten fühlten sich um die elf bis zwölf Prozent jünger, Frauen jünger als Männer.

Warum die Frauen?

Vielleicht haben sie ein Gespür dafür, dass sie im gleichen Alter noch nicht so nah am Lebensende angelangt sind wie die Männer. Und noch mal zum Muster der Abgrenzung: Altersstereotype über Frauen sind oft negativer, die Anti-Aging-Industrie richtet sich stärker an die Frauen als an die Männer.

Eine Ihrer Thesen lautet: Das subjektive Alter hat positive Auswirkungen auf die eigene Gesundheit.

Studien haben tatsächlich diesen interessanten Effekt ermittelt: Wer sich jung fühlt, ist tendenziell gesünder und bleibt es auch, hat ein höheres Wohlbefinden, treibt mehr Sport. Das subjektive Alter hat also motivierende Wirkung. Und man kann im Körper auch entsprechende biologische Parameter nachweisen. Wenn ich denke, es ist sowieso alles zu spät, dann treibe ich keinen Sport, und die Gefahr, krank zu werden oder nicht lange zu leben, steigt.

Man muss also das Alter nur negieren und lebt dann länger?

Wäre Altern in der Gesellschaft ausschließlich positiv besetzt, dann wäre das Bedürfnis womöglich nicht so groß, sich abzugrenzen und jünger zu fühlen. Wir sind immer noch nicht an dem Punkt angekommen, wo wir ausbalancierte Altersstereotype haben. Wo wir auch die Potenziale des Alterns ausreichend würdigen. Ältere Menschen sind nicht alles vulnerable Risikogruppen.

In welcher Altersspanne harmonieren gefühltes und chronologisches Alter?

Wir hatten erwartet, dass es bei den sehr Alten so ist. Wenn der Tod nahe rückt, das Leben mühsam wird, Krankheiten dazukommen. Stattdessen gibt es den Trend zur „Verjüngung“ über die Zeit hinweg: Heute fühlen sich alte Menschen noch jünger als Gleichaltrige vor zehn, fünfzehn Jahren. Zudem scheint das alles ein sehr westeuropäisches Phänomen zu sein: Es gibt etwa eine Studie zum Altern in Burkina Faso, dort fühlen sich die meisten Menschen nur minimal jünger, als sie sind.

Womit könnte das zusammenhängen?

Die Lebenserwartung liegt dort nur bei knapp über 60. Außerdem spielt die Auseinandersetzung mit Alter oder Anti-Aging in einem armen Land vermutlich keine so große Rolle.