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Rosemarie Segtrop ist aufgeregt. Seit einer Woche macht die 79-Jährige eine Reha in der Berolina-Klinik in Bad Oeynhausen. Ihr vier Jahre älterer Mann Rudi ist im Nachbarort Löhne untergebracht. Zuletzt haben sich die beiden vor drei Tagen gesehen. Doch nicht nur die Vorfreude aufs Wiedersehen lässt die Aachenerin an diesem Morgen beschwingt durch den Garten des Seniorencentrums St. Laurentius gehen. Heute werde etwas Besonderes auf dem Programm stehen, hat man ihr gesagt. Eine Fahrt mit einer Rikscha.

Demenz bestimmt den Alltag

Heimmitarbeiter Thomas Beck hat Rudolf Segtrop aus seiner Wohngruppe abgeholt und schiebt ihn nun im Rollstuhl geradewegs auf seine Frau zu. „Es geht mir gut, Rudi“, sagt Rosemarie Segtrop, während sie sich diskret ein paar Tränchen der Rührung abtupft. Er nickt, beide strahlen. Seit 62 Jahren seien sie verheiratet, wird Rosemarie Segtrop später sagen, „eine gute Ehe. Aber zuletzt war es schwer.“

Vor zehn Jahren hatte ihr Mann einen Unfall und erlitt eine Gehirnblutung. Mit der Zeit entwickelte er eine Demenz. Zu Hause kommt morgens und abends ein Pflegedienst, dazwischen schafft Rosemarie Segtrop alles allein – vom Einkaufen bis zum Wechseln der Inkontinenzhilfen. Aber ihre rheumatischen Hände werden nicht besser. Und nicht nur körperlich ist sie gefordert.

Reha für Pflegende

Pflegende Angehörige, die gesetzlich versichert sind, haben bereits seit 2013 einen Anspruch auf stationäre Reha- oder Vorsorge-Maßnahmen – vorausgesetzt, die medizinische Notwendigkeit ist gegeben. Allerdings gibt es bislang nur wenige Angebote, die auf die Situation pflegender Angehöriger zugeschnitten sind.

Am besten sprechen Sie mit Ihrer Hausärztin oder Ihrem Hausarzt, welche Maßnahme sinnvoll ist. Sofern Sie berufstätig sind, ist in der Regel die Rentenversicherung für die Finanzierung einer Reha zuständig, bei Rentnerinnen und Rentnern die Krankenkasse.

Vermerken Sie im Antrag, dass Sie pflegende Angehörige sind.

Für die Unterbringung der pflegebedürftigen Person entstehen Kosten, deren Höhe von Einrichtung zu Einrichtung variiert. Dafür kann häufig das Budget für Kurzzeit- oder Verhinderungspflege genutzt werden. Achtung: Dann steht gegebenenfalls weniger Geld zur Verfügung, wenn Sie als Pflegeperson einmal ausfallen – etwa urlaubsbedingt oder wegen Krankheit.

Lassen Sie sich beraten – zum Beispiel bei Pflegeberatungsstellen (Adressen in Ihrer Nähe unter: www.zqp.de/beratung-pflege/). Oder bei der Kurberatung für pflegende Angehörige: www.kuren-fuer-pflegende-angehoerige.de/

Reha für pflegende Angehörige

Früher ging Rosemarie Segtrop oft schwimmen. Oder traf Freundinnen. Jetzt will, jetzt muss sie für ihren Rudi da sein. „Wo gehst du hin, wann kommst du wieder?“, heißt es, sobald sie nur kurz das Zimmer verlässt. Rosemarie Segtrop steht zu Hause die ganze Zeit unter Strom, findet kaum noch in den Schlaf. Eines Tages brachte ihre Tochter einen Prospekt mit: eine Reha für pflegende Angehörige plus Begleitangebot für die Pflegebedürftigen – ein Angebot in einem Modellprojekt in Nordrhein-Westfalen. „Der Papa könnte mitkommen“, meinte die Tochter.

Marion Schwarze ist Qualitätsmanagementbeauftragte der Berolina-Klinik. Sie weiß, wie wichtig es ist, dass pflegende Angehörige die Akkus aufladen. Doch in der Vergangenheit kamen immer wieder teils kurzfristige Absagen von Reha-Anmeldungen. Man hätte doch die pflegebedürftige Mutter zu Hause. Könne den Mann nicht alleinlassen.

Bedürfnis nach Nähe

Der Klinik sei klar geworden, dass es ein eigenes Reha-Angebot für pflegende Angehörige geben müsse, berichtet Schwarze. Bereits 2016 legte das Haus ein Angebot auf, zu dem auch die Kassen Ja sagten. Mit dem Heim in Löhne fand man einen Partner, der sich um die Pflegebedürftigen kümmert, während die Angehörigen ihre Reha durchlaufen. Anfangs sei es schwer gewesen, das Angebot bekannt zu machen. Umso mehr freut sich Schwarze, dass das Thema nun bei Politik und Verbänden angekommen ist. 2020 startete die Freie Wohlfahrt das Verbundvorhaben „Prävention und Rehabilitation für pflegende Angehörige“, kurz „PuRpA“. In drei Modellprojekten können Teilnehmende alleine kommen oder – wie bei den Segtrops – im Tandem.

Bislang gebe es gerade bei Angeboten für Angehörige von Menschen mit Demenz eine Lücke, weiß Susanna Saxl-Reisen von der Deutschen Alzheimer Gesellschaft. Sie begrüßt das Modellprojekt. Es gebe zwar Angehörige, die froh seien, mal für sich zu sein. „In vielen Fällen aber ist das Bedürfnis nach Nähe groß, nicht zuletzt, weil die Betroffenen sichergehen wollen, dass es den Erkrankten gut geht.“

Eine Rikscha-Runde zu zweit

Rosemarie Segtrop hätte die Reise ohne ihren Mann nie angetreten. Tag für Tag erwarten sie nun Fitnesseinheiten, Gesprächskreise, Massagen, Wärmetherapie – wenn sie möchte, ist sie bis nachmittags beschäftigt. Pausen seien kein Problem, hieß es. Heute verzichtet sie für die Rikscha aufs Vormittagsprogramm.

„Ich habe das gestern schon mal mit ihrem Mann ausprobiert“, sagt Thomas Beck, als er die Rikscha aus der Garage holt. Rosemarie Segtrop ist nicht abgeneigt, Radfahren ist Rudis Ding. Nur dass sie heute in die Pedale treten soll – ein Rollenwechsel. Im Verlauf einer Reha für pflegende Angehörige ist Zeit für Fragen. Was sind meine Bedürfnisse? Wie lassen sich diese mit ­denen des Partners oder der Partnerin zusammenbringen? Pauschale Antworten gibt es nicht. Aber Momente wie diese bei der Testfahrt.

Zeit zu zweit: Rosemarie Segtrop und ihr Mann während einer Rickscha-Fahrt.

Zeit zu zweit: Rosemarie Segtrop und ihr Mann während einer Rickscha-Fahrt.

„Früher hat meist er gesagt, wo es langgeht“, sagt Rosemarie Segtrop. Und jetzt? Beide lachen – für Thomas Beck ein gutes Zeichen. Erfahrungsgemäß werden die Rikscha-Runden mit jedem Mal ein Stück mehr ausgedehnt. Etwa zu einem Hof mit Alpakas. „Das wäre vielleicht was fürs nächste Wochenende“, meint Rosemarie Segtrop, als das Gefährt zurück in die Garage kommt. Zeit, ihren Mann in den Wohnbereich zu begleiten, auszutesten, ob ein erneutes Loslassen möglich ist.

Gemeinsames Spielen

Und ob. Es gibt schließlich die Spielekonsole im Aufenthaltsbereich, wo bereits ein paar Herren beschäftigt sind: Ein Gerät an der Decke projiziert Spiele auf den Tisch –von virtuellen Blättern, die weggewischt werden wollen, bis hin zum Tischkicker. Rosemarie Segtrop, die ihren Mann zu Hause mühsam zum Kartenspiel zu bewegen versucht, ist beeindruckt, als sie ihn hier mitspielen sieht. Alles gut also. Gleich wird sie wohl einen kurzen Schmerz spüren – und zugleich die Vorfreude auf das, was der Tag noch bringen wird.

Rudolf Segtrop kommt im Seniorenzentrum in Bewegung. Dabei helfen ihm die Alltagsbegleiter Carina Wagner und Thomas Beck.

Rudolf Segtrop kommt im Seniorenzentrum in Bewegung. Dabei helfen ihm die Alltagsbegleiter Carina Wagner und Thomas Beck.

Der Raum von Psychotherapeutin Regina Diedrichs in der Berolina-Klinik ist klein. Doch Rosemarie Segtrop scheint sich in der Sitzecke wohlzufühlen. Es ist Nachmittag, auch die 79-Jährige hat sich eben einen Mittagsschlaf gegönnt, um für diese Stunde wach zu sein. Diedrichs arbeitet gerne mit Vergleichsbildern: Bei einem Notfall im Flugzeug sei es wichtig, sich zunächst selbst eine Sauerstoffmaske aufzusetzen. Nur so könne anderen geholfen werden. „Denken Sie an einen Marathon“, gibt Died­richs ihrem Gegenüber mit. „Teilen Sie sich Ihre Kräfte ein. Sie wollen keinen Sprint hinlegen, sondern durchhalten.“ Rosemarie Segtrop schließt die Augen. Ihre Gesichtszüge entspannen sich.

Achtsamkeit üben

Gestern war sie nach Ende des Programms schwimmen. Heute will sie das wieder tun. Achtsamkeit – das Wort fällt hier in der Klinik oft. Wenn Rosemarie Segtrop jetzt ruht oder einen Spaziergang macht, versteht sie besser, was damit gemeint ist. Ihr Atem geht ruhiger, der innere Antreiber ist leiser geworden. Auch der Schlaf ist besser. Aber eine Frage bleibt: Wie wird es zu Hause?

Die Nachsorge ist ein wichtiger Baustein von „PuRpA“. Sogenannte Case-Manager kümmern sich, anders als sonst üblich, nicht hauptsächlich um die Pflegebedürftigen, sondern um die Angehörigen. Rosemarie Segtrop gefällt das. Es wäre gut, wenn ab und zu auch jemand für sie käme. Jemand, der sie an ihre Bedürfnisse erinnert. Damit sie merkt, wenn sie eine Auszeit braucht.

Neue Kraft tanken in der Reha für pflegende Angehörige

Auszeit für pflegende Angehörige

Wer zu Hause pflegt, gerät schnell an den Rand der Erschöpfung. Vorsorge- und Reha-Angebote sind jedoch rar. Besuch bei einem Modell­projekt in Nordrhein-Westfalen. zum Artikel