Gesellschaftsdienst in der Pflege ist eine Chance — aber bitte ohne Ausbeutung
Den eigenen Horizont erweitern, Menschen zusammenbringen, etwas für das Land tun. Einem sozialen Gesellschaftsdienst stehen die Deutschen momentan recht positiv gegenüber. Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Ipsos hat jüngst ergeben: Knapp drei Viertel der Befragten sind für so einen Pflichtdienst. Gerade für die Pflege kann das eine große Chance sein. Aber der Dienst sollte nicht dafür missbraucht werden, schlechte Löhne im Pflegebereich zu zahlen.
Es fehlen zigtausende Pflegekräfte
2011 wurde der Wehrdienst ausgesetzt. Die Lage in Deutschland sei so sicher, dass man weniger Soldaten ausbilden müsse, hieß es. Auch der Zivildienst – offiziell ja Wehr-Ersatzdienst – wurde ausgesetzt. Aber Pflegemangel bestand damals schon, der Notstand war absehbar. Der damalige Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler rief sogar das „Jahr der Pflege“ aus. Heute ist der Pflegenotstand schlimmer denn je. 2029 werden laut Statistischem Bundesamt etwa 60 000 bis 260 000 Pflegekräfte fehlen.
Gesellschaftsdienst – für die Pflege eine Chance
Für die Pflege kann deshalb ein solcher Gesellschaftsdienst eine große Chance sein. Ganz unmittelbar könnte er das Pflegesystem etwas entlasten. Einfach ein paar mehr Arbeitskräfte, selbst wenn sie nicht ausgebildet sind.
Wer hier den Gepflegten persönlich und auf Augenhöhe begegnet, baut Berührungsängste ab. Und lässt sich so später vielleicht erst auf einen Pflegeberuf ein. So könnten junge, motivierte Menschen für die Pflege gewonnen werden, die vorher gar nicht an diesen Bereich gedacht haben.
Dabei hat die Pflege oft genau das zu bieten, was sich junge Menschen wünschen, die sich ehrenamtlich engagieren: Sie wollen sich persönlich weiterentwickeln und aktiv die Gesellschaft mitgestalten. Wer pflegt, leistet einen unglaublich wichtigen Beitrag in unserer alternden Gesellschaft. Und klar ist auch: Herausforderungen, an denen man wachsen und etwas fürs Leben lernen kann, gibt es genug.
Pflegearbeit muss mehr als ein Taschengeld wert sein
So wertvoll das ist und so viel man persönlich daraus mitnehmen kann – das ist anstrengend. Und sollte wertgeschätzt werden. Auch finanziell. Momentan bekommen Freiwillige für ihre Arbeit — wenn überhaupt — ein Taschengeld. Für die Vollzeit-Arbeit gibt es maximal 600 Euro, oft aber viel weniger. Meist nicht einmal ein Viertel des Mindestlohns. So sieht keine Wertschätzung aus.
Wenn junge Erwachsene nicht einmal Mindestlohn für ihre Pflegearbeit bekommen – sollen sie erwarten, als ausgebildete Pflegekraft ordentlich bezahlt zu werden?
Nicht zulasten der Ärmsten
Hinzu kommt: Sollte ein sozialer Gesellschaftsdienst kommen, werden ihn wohl junge Erwachsene leisten müssen. Dabei sind sie die Altersgruppe in Deutschland, die am meisten von Armut gefährdet ist. Bei den 18- bis 25-Jährigen ist das jeder Vierte.
Pflege nehmen hingegen vor allem ältere Menschen in Anspruch. Die sind es aber auch, die so vermögend sind, dass sie besonders selten erheblich materiell und sozial benachteiligt sind. Das heißt, diese Altersgruppe kann besonders gut unerwartete Kosten wie etwa eine kaputte Waschmaschine stemmen, sich Urlaube leisten oder ihre Wohnung angemessen warmhalten. Bei über 75-Jährigen haben nur 1,7 Prozent damit Probleme. Bei 18- bis 25-Jährigen sind es fast dreimal so viel.
Bezahlt man die jungen Menschen in der Pflege nicht ordentlich, heißt das letztlich: Die Pflegenden und die Gepflegten sind das Geld nicht wert. Das können weder Alte noch Junge wollen. Pflege geht nur miteinander.
Chance ja, Ausbeutung nein
Also ja, ein verpflichtender Gesellschaftsdienst bietet große Chancen für die Pflege. Für die Gesellschaft im Ganzen, für die Menschen im Einzelnen und für den Pflegenotstand im Speziellen. Der Dienst darf aber nicht dafür missbraucht werden, junge Arbeitskräfte finanziell auszubeuten. Sonst wird die Pflege von Anfang an abgewertet.
Quellen:
- Ipsos: Große Mehrheit für Einführung eines verpflichtenden Gesellschaftsdienstes. https://www.ipsos.com/... (Abgerufen am 07.06.2024)
- Statistisches Bundesamt: Bis 2049 werden voraussichtlich mindestens 280 000 zusätzliche Pflegekräfte benötigt. https://www.destatis.de/... (Abgerufen am 07.06.2024)
- vostel volunteering UG: Engagierte 2.0 – Ergebnisbericht unserer Freiwilligen-Umfrage 2020. https://vostel.de/... (Abgerufen am 07.06.2024)
- Bertelsmann Stiftung: Gesellschaftlicher Zusammenhalt in Deutschland 2023: Perspektiven auf das Miteinander in herausfordernden Zeiten . https://www.bertelsmann-stiftung.de/... (Abgerufen am 07.06.2024)
- Verein für soziales Leben e.V.: Taschengeld, Vergütung, sonstige Leistungen im FSJ. https://www.bundes-freiwilligendienst.de/... (Abgerufen am 07.06.2024)
- fsj.de: Bezahlung und weitere Leistungen , Was du im FSJ / BFD bekommst. https://ich-will-fsj.de/... (Abgerufen am 07.06.2024)
- AWO: Neue Zahlen zur Armutsgefährdung junger Menschen. https://awo.org/... (Abgerufen am 07.06.2024)
- Statistisches Bundesamt: Statistik zu Einkommen und Lebensbedingungen (Mikrozensus-Unterstichprobe zu Einkommen und Lebensbedingungen). https://www.destatis.de/... (Abgerufen am 07.06.2024)
- Statistisches Bundesamt: Mehr Pflegebedürftige. https://www.destatis.de/... (Abgerufen am 07.06.2024)