Abhängig von Medikamenten
Endlich wieder durchschlafen. Jutta B. hatte fast vergessen, wie sich das anfühlt. Pflichtbewusst und gewissenhaft, so kannten ihre Kollegen sie. Nichts, was "die Jutta" nicht ordentlich zu Ende bringt. Doch in jüngster Zeit war das Bild ins Wanken geraten. "Ich hatte keine Kraft mehr", erzählt die 56-Jährige. Dazu dieser Dröhnschädel, weil sie nachts kaum schläft. Was, wenn sie ihr Pensum nicht schafft? Wer ist sie dann noch? "Solche Phasen gibt es", sagt der Hausarzt und verschreibt ein Beruhigungsmittel, ein Benzodiazepin. Jutta B. nimmt fünf Tropfen, anfangs. Vier Jahre später sind es täglich 170.
Das stille Leiden
Wie Jutta B. geht es zwischen 1,4 und 1,9 Millionen Menschen in Deutschland, schätzen Experten. Sie sind abhängig von Medikamenten. Oft halten die Betroffenen, zu denen viele Ältere zählen, ihr Problem lange geheim. Kein Torkeln, kein Lallen, nichts, was man sehen oder riechen könnte. Ein stilles Leiden.
"Viele sind von der anfänglichen Wirkung ihres Medikaments beeindruckt", sagt Psychiater Prof. Marc Ziegenbein, der als ärztlicher Direktor am Klinikum Wahrendorff auch Medikamentenabhängige behandelt. Gefährlich werde es, wenn nicht klar ist, dass es nur um eine kurzfristige Linderung akuter Beschwerden geht. Als riskant gelten die Benzodiazepine, aber auch neuere Schlafmittel sowie Schmerzmittel aus der Gruppe der Opioide. Allen gemeinsam ist: Die Wirkung tritt erst mal bei relativ geringen Dosen ein. Mit der Zeit aber braucht der Körper mehr.
So richtig erinnern kann sich Jutta B. nur an den Sprung von fünf auf zehn Tropfen. "Man hat einen schlechten Tag. Alles tut weh, die Nacht war wieder schlimm", erzählt sie. Aber beim Zurück zur Standarddosis reagierte der Körper nicht mehr. Schließlich nimmt sie 170 Tropfen täglich, eine Dosis, die kein Arzt verschreibt. "Ich habe Ärzte-Hopping betrieben", gesteht sie.
Nicht alle Menschen, die länger riskante Medikamente einnehmen, greifen am Ende zu so hohen Dosen wie Jutta B.. Doch können auch geringe Mengen abhängig machen, warnt Ziegenbein. Süchtig wegen ein, zwei Tabletten pro Tag? Das gibt es, wenn sich Körper und Psyche mit der Zeit an einen Wirkstoff gewöhnen. Fachleute sprechen von Niedrigdosis-Abhängigkeit.
Tagsüber apathisch
Niedrig, das klingt, als müsse man sich keine Sorgen machen. Dennoch sind die Patienten abhängig. Ein weiteres Problem: Im Alter verlängert sich die Wirkdauer der Medikamente. "Die Patienten sind auch tagsüber apathisch, unkonzentriert, neigen zu Stürzen", sagt Prof. Martin Wehling, Pharmakologe am Universitätsklinikum Mannheim. Ist ein kompletter Entzug nicht möglich, könne es helfen, auf ein Mittel umzusteigen, das im Körper rascher abgebaut wird.
Die Risiken der Medikamente sind bekannt. Warum aber kommt es überhaupt zu einer langfristigen Einnahme? Die Kritik trifft oft das Versorgungssystem, das für Gespräche und Lösungen ohne Medikamente zu wenig Zeit lässt. Doch hat nach Ziegenbein auch die Erwartung der Patienten Anteil an der teils problematischen Verschreibungspraxis: "Viele Menschen denken: Wenn ich aus der Praxis komme und kein Rezept für Medikamente erhalten habe, war die Behandlung nicht gut."
Eine Krücke für kurze Zeit
Zudem hat es anfangs den Anschein, als würden die Pillen die Probleme tatsächlich lösen – ein gefährlicher Trugschluss, den man im Beratungsgespräch unbedingt betonen müsse, meint Ziegenbein. Ebenso, dass man bestimmte Substanzen nicht länger als zwei bis vier Wochen einnehmen sollte: "Die Patienten müssen wissen: Das ist eine vorübergehende Maßnahme." Ein erstes Auffangen, wenn man in einer Krise, Angst oder Trauer wie gefangen ist. "Stellen Sie sich vor, Sie sind nach einem Unfall schlecht zu Fuß", sagt Ziegenbein gerne zu seinen Patienten. "Eine Krücke kann jetzt helfen, mobil zu sein." Das Ziel aber muss sein, bald wieder ohne Hilfe laufen zu können.
Jutta B. hatte sich fünf Jahre mit Medikamenten-Krücken durchs Leben geschleppt. Dann war sie am Tiefpunkt. "Die Tropfen beruhigten nicht mehr. Ich wurde immer nervöser, zitterte", erzählt sie. Schließlich traf sie einen Entschluss, den sie keinem empfiehlt. Sie entzog kalt: "Ich krabbelte vor Schmerzen auf allen vieren und wusste bald nicht mehr, ob Tag oder Nacht ist."
Auch Ziegenbein warnt vor solchen Hauruck-Aktionen. Wichtig sei ein "gezieltes Ausschleichen", eine schrittweise Verringerung der Dosis unter professioneller Begleitung. "Das geht mit deutlich weniger Beschwerden einher als ein abruptes Absetzen", sagt er. Medikamente können helfen, den Übergang zu erleichtern. Doch bringt der Entzug allein oft keine endgültige Heilung: "Solange das Thema hinter der Sucht nicht erkannt ist, bleibt die Gefahr eines Rückfalls hoch." Eine psychiatrische Beratung ist daher stets sinnvoll.
Veränderungen anpacken
Auch für Jutta B. war der Entzug der Anfang eines langen Weges. Sie lernte, sich selbst gernzuhaben und Veränderungen anzupacken – nicht irgendwann, sofort! Mit der Zeit wurde sie wieder frei für das, was wichtig ist, für Kunst, Kultur, Freunde. Auch moderaten Sport treibt sie inzwischen wieder. "Die Sucht war die Hölle, aber auch eine Chance", sagt sie. Jutta B. hat sie genutzt. Ihre Lebensfreude ist seither größer als je zuvor.