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Zehn Millionen Menschen in Deutschland leiden an Harn­inkontinenz. Sie verlieren un­gewollt Urin und brauchen zuverlässige Hilfsmittel, um den Alltag ohne peinliche Situationen zu meistern. Doch bei der Versorgung mit Vorlagen, Windeln oder Inkontinenzunterhosen regiert der Preis – nicht die Qualität.

Kontaktieren Sie Redakteurin Andrea Grill unter andrea.grill@wubv.de

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Einen Tiefpunkt hat unlängst eine große gesetzliche Krankenkasse in Westfalen gesetzt. Sie bezahlt ihren Versicherten nur noch knapp zwölf Euro für den kompletten Monatsbedarf an Inkontinenzhilfen. Die Pauschale soll nicht nur das Material abdecken, sondern auch alle Serviceleistungen – zum Beispiel Beratung und Belieferung. Zum Vergleich: Hochwertige Windeln für ein Baby kosten rund 35 Euro pro Monat.

Windeln erfüllen gerade mal Minimalstandards

Die Politik hat in den letzten Jahren einiges versucht, um die Versorgung zu verbessern. So wurde das angestaubte Hilfsmittelverzeichnis überarbeitet. Die dort gelisteten Windeln und Vorlagen halten jetzt immerhin Minimalstandards ein, sprich: Sie halten dicht und trocken. Eine andere Neuregelung läuft ins Leere. Seit 2019 sind Krankenkassen verpflichtet, mit Apotheken, Sanitätshäusern und Homecare-Unternehmen Verträge für die Inkontinenzversorgung auszuhandeln. So soll Preisdumping vermieden werden. Die Versorger bekommen pro Patientin oder Patient eine Monatspauschale, für die sie beraten und passende Produkte liefern. Vor allem große Krankenkassen nutzen aber ihre Marktmacht, um in den Verhandlungen die Preise zu drücken.

Mit dem Ergebnis, dass lokale Versorger wie Apotheken und Sanitätshäuser aus dem Geschäft zunehmend aussteigen. Denn persönliche Gespräche, wie sie die ärztliche Leitlinie zur Hilfsmittelberatung vorsieht, dazu die komplette Logistik – das ist für 15 Euro und weniger pro Monat einfach nicht drin. Schon jetzt zahlen viele Versicherte über die gesetzliche Zuzahlung hinaus freiwillig Aufpreise, um gute Produkte zu bekommen.

Per Hotline über Inkontinenz sprechen?

Verlierer des Preisverfalls sind die Menschen, die auf Inkontinenzhilfen angewiesen sind. Ihr Anlaufpunkt ist nicht mehr die Apotheke vor Ort. Sondern die Hotline eines überregionalen Dienstleisters, der einen Vertrag mit der Krankenversicherung hat. Dem dürfen sie ihr Anliegen schildern. Eine Zumutung bei einem so sensiblen Thema.

Wie ließe sich an der Misere etwas ändern? Etwa indem die Monatspauschalen bundesweit vereinheitlicht und auf ein reelles Mindestniveau angehoben werden. Indem Beratung gesondert honoriert wird, anstatt in die Pauschale einzufließen. Indem Versicherte freie Wahl haben, welchem Versorger sie sich anvertrauen. Bei Ärztin oder Arzt ein Rezept und von der Versicherung eine Liste mit Firmennamen zu bekommen, wenn es um ein Tabuthema geht: Das ist Medizin, die ihre Menschlichkeit verloren hat.


Quellen:

  • Deutsche Gesellschaft für Urologie: S2k-Leitlinie Hilfsmittelberatung. Leitlinie: 2020. (Abgerufen am 07.04.2022)

  • Müller C.: Inkontinenzversorgung: Diese Menschen haben keine starke Lobby. https://www.deutsche-apotheker-zeitung.de/... (Abgerufen am 07.04.2022)
  • Deutsche Kontinenz Gesellschaft: Stellungnahme zu sinkenden Vergütungspauschalen für Inkontinenzhilfen. https://www.kontinenz-gesellschaft.de/... (Abgerufen am 28.03.2022)