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Es ist neblig in Süssendell an diesem Morgen. Die Umgebung ist nur schemenhaft zu erkennen. Fast zu gut passt das Wetter, das die Dinge in Watte hüllt, zu diesem Ort mitten im Wald. Hier, etwas abseits des Ortes Stolberg-Mausbach bei Aachen, befindet sich das AWO-Seniorenzentrum Süssendell. Es wird fast ausschließlich von Menschen mit Demenz bewohnt.

In den offenen Küchen der Häuser ist schon einiges los. Das Radio läuft, Bewohnerinnen und Bewohner unterhalten sich. Einige schauen zu, wie das Mittagessen zubereitet wird. Andere sind im Sitzen eingeschlafen. Und es gibt auch die, deren Augen ins Leere starren, der Mund offen, der Speichelfluss unkontrolliert. Selbst Bettlägerige sind mittendrin und beobachten das Treiben im Liegen. Kaum jemand scheint auf seinem Zimmer zu sein.

Was steckt hinter dem Konzept „Demenzdorf“?

Christel Lenertz grüßt kurz, geht aber vorbei. Noch ist die 77-Jährige für das Interview nicht bereit. Erst muss sie sich schminken. Das macht sie jeden Tag. Sie wirkt fidel, ist gut zu Fuß. Sie hat sich nicht aufgegeben, trotz chronischer Krankheit, trotz Schmerzen, die sie „die Wände hochgehen“ lassen, trotz Demenz. Seit sieben Jahren lebt sie in Süssendell. Stationäre Einrichtungen wie diese werden umgangssprachlich als ­Demenzdörfer bezeichnet.

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Anbieter oder Fachgesellschaften benutzen den Begriff ungern. Das Wort stigmatisiere, lege zu viel Fokus auf die Erkrankung. In Süssendell spricht man vom Dorf oder von der Dorf­gemeinschaft. Rund um Café, Friseur und Grünflächen reihen sich fünf Wohnhäuser, in denen je 16 Menschen leben können.

Wie viele vergleichbare Einrichtungen es in Deutschland gibt, lässt sich schwer ­fest­stellen.­ Das Konzept und seine Effekte sind bisher wenig untersucht. Doch es entspricht einem „aktuellen Fokus auf personenzentrierte Ansätze bei der Versorgung von Menschen mit Demenz“ – so eine Studie zu innovativen Versorgungsansätzen im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG).

Wie geht man in Demenzdörfern mit der „Hinlauftendenz“ um?

Die erste derartige Siedlung entstand 2009 in den Niederlanden. 2014 eröffnete das erste deutsche Dorf. Dort orientiert man sich am ursprünglichen Konzept der Niederlande – es ist eine geschlossene Einrichtung. Denn teils haben Menschen mit Demenz eine sogenannte Hinlauftendenz und wandern scheinbar ziellos umher. Sie könnten sich gefährden, wenn sie vom Gelände verschwinden.

Süssendell ist anders. Die 2016 gegründete Einrichtung kommt ohne Zaun aus. Leiter Klas Bauer hält nichts davon, Menschen, die laufen wollen, festzuhalten. Bei ihm bekommen Menschen mit Hinlauftendenz in Absprache mit den Angehörigen GPS-Tracker, sodass sie im Fall der Fälle auffindbar sind. Manchen könne man aber auch erklären, wo sie sich bewegen können und wo sie besser nicht hingehen sollten.

Einrichtungsleiter Klas Bauer hält nicht viel von Zäunen. Im Dorf dürfen sich Mensch (immer) und Tier (oft) frei bewegen.

Einrichtungsleiter Klas Bauer hält nicht viel von Zäunen. Im Dorf dürfen sich Mensch (immer) und Tier (oft) frei bewegen.

Auch Pflegefachkraft Stephanie Hambloch geht routiniert mit Hinlauftendenzen um. Ab und zu müsse die Polizei behilflich sein. „Oft schlagen die Leute des Wohnbereichs, den ich leite, aber dieselben Wege ein, sodass die Suche meist schnell erfolgreich ist“, sagt sie.

Warum werden Zäune in Demenzdörfern häufig kritisiert?

Der Freiheitsentzug, den manche mit dem ursprünglichen Konzept Demenzdorf verbinden, ist einer der größten Kritikpunkte an der besonderen Wohnform. „Welches Dorf ist denn sonst eingezäunt?“, fragt etwa Saskia Weiß, Geschäftsführerin der Deutschen Alzheimer Gesellschaft e.V. Selbsthilfe Demenz (DAlzG). „Ein Zaun ist nicht das einzige Mittel, um mögliche Risiken zu verringern. Heutzutage stehen diverse technische Geräte wie GPS-Systeme zur Verfügung, um andere Wege zu gehen.“

Auch der Medizinethiker Prof. Dr. Mark Schweda von der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg sieht Zäune als freiheitsentziehende Maßnahme kritisch. Es handle sich aber weniger um ein spezielles Pro­blem von Demenzdörfern als um ein generelles Manko in der Pflege von Menschen mit Demenz. „In herkömmlichen Einrichtungen ist es vielfach noch gravierender“, sagt er. Da dort die Personalschlüssel oft deutlich schlechter seien, fielen freiheitsbeschränkende Maßnahmen sehr viel rigider aus als ein großzügig gezogener Zaun.

Wie ist die Pflege im Demenzdorf – und wie viel kostet sie?

An Personal mangelt es in Süssendell nicht. 95 Personen – davon 60 Pflegekräfte – arbeiten hier für 80 Bewohnerinnen und Bewohner. Die zahlen dafür - etwa bei Pflegegrad 5 - einen Eigenanteil an den Pflegekosten von rund 3135 Euro im Monat. In herkömmlichen Pflegeeinrichtungen im Ort sind die Preise teils etwas niedriger, teils höher.

Auch draußen und bei schlechtem Wetter gibt es in Süssendell etwas zu tun.

Auch draußen und bei schlechtem Wetter gibt es in Süssendell etwas zu tun.

Auf jeden Fall nimmt man in Süssendell auf individuelle Bedürfnisse Rücksicht. Ohne dass sie ­danach fragen muss, bekommt Christel ­Lenertz heute zum Mittagessen Kartoffeln. Das Personal weiß, dass sie keine Nudeln mag. Sie isst in größerer Gruppe, während andere lieber zu zweit oder alleine sitzen.

Für alle Anwesenden gilt eine tolerante „Hausunordnung“. Eine Bewohnerin etwa isst im Gehen, kleckert dabei. Und das ist okay. Auch im Schlafanzug darf man zum Essen kommen. Oder sich später etwas in der Mikrowelle warm machen lassen. „Das Personal ist rundum super“, erzählt Christel Lenertz, als wir am Tisch in ihrem Zimmer sitzen. Auch mit demenzbedingt he­rausfordernden Bewohnerinnen und Bewohnern kämen die Pflegekräfte gut zurecht.

Welche weitere Kritik gibt es an Demenzdörfern?

Lenertz hatte mehrere Schlaganfälle, bevor sie nach Süssendell kam. Glücklicherweise war Hilfe immer schnell zur Stelle, sodass sie heute auf den ersten Blick höchstens etwas vergesslich wirkt. Zu Hause kam sie aber nicht mehr allein zurecht, ließ das Bügeleisen oder den Herd an und brachte sich so selbst in Gefahr. Heute ist sie im Bewohnerbeirat, heißt Neuzugänge willkommen, singt im Chor. Nur herumsitzen, das könnte sie nicht. Schließlich hat sie als Berufstätige jahrelang als Textilschöpferin im Akkord gearbeitet.

Wenn man Lenertz erzählen hört, passt das so gar nicht zur Kritik an den Dörfern. Neben den freiheitseinschränkenden Maßnahmen wird häufig auch mangelnde Inklusion kritisiert. Menschen mit Demenz lebten dort zu sehr nur unter sich. Oft befänden sich die Einrichtungen fernab vom Rest der Gesellschaft. Abgesehen davon, dass es ein Menschenrecht auf Inklusion gibt, sei es „sehr erstrebenswert, Menschen mit Demenz stärker ins gesellschaftliche Zusammenleben zu integrieren“, sagt Ethiker Schweda. Das ginge etwa mit „Demenz-WGs“ in Stadtzentren.

Für Saskia Weiß von der DAlzG sei die entfernte Lage nicht generell ein Problem, entscheidend sei aber der Umgang damit. „Wenn Einrichtungen Bewohnerinnen und Bewohnern weiter ermöglichen, vertraute Orte wie etwa die Kirche zu besuchen, ist es weniger problematisch“, sagt sie. Tatsächlich ist genau das in Süssendell der Fall. Regelmäßig werden die, die möchten, zur Messe gefahren. Und das Café im Ort, der Weihnachtsmarkt oder das Sommerfest sind offen für alle.

Welche Herausforderungen für Pflegende gibt es?

Christel Lenertz kommt jetzt mit zu Rosa Brummer. Die 93-Jährige singt ebenfalls im Chor, begrüßt uns mit einer abgewandelten Form von „Kommt ein Vogel geflogen“. Auch sie wirkt körperlich recht fit, kann mit den Fingerspitzen den Boden berühren, ist schnell mit dem Rollator. Die Demenz scheint bei ihr aber deutlich stärker. Vieles weiß sie nicht mehr – zum Beispiel, dass sie am Tag zuvor Geburtstag hatte. Wieder und wieder kommt sie auf dieselben Themen zurück. Familienfotos, Berglandschaften und eine Jagdtrophäe zieren ihr Zimmer: Erinnerungsstücke an ihre Söhne und ihre Heimat, den Bayerischen Wald.

„Blume-Jeck“ Christel Lenertz: Der Bewohnerin machen nicht nur ihre Pflanzen Spaß. Sie ist generell lebensfroh.

„Blume-Jeck“ Christel Lenertz: Der Bewohnerin machen nicht nur ihre Pflanzen Spaß. Sie ist generell lebensfroh.

Es falle ihr nicht schwer, sich im Dienst mit Bewohnerinnen und Bewohnern zu umgeben, die wie Frau Brummer immer wieder dasselbe sagen, sagt Pflegefachkraft Stephanie Hambloch.

Es sei ihre Berufung, diese Menschen auch in schwierigen Phasen zu unterstützen. „Natürlich ist es eine Herausforderung, wenn zur Pflegebedürftigkeit noch eine demenzielle Entwicklung hinzukommt“, sagt Hambloch, die schon seit 24 Jahren in der Pflege und seit 2018 in Süssendell tätig ist. „Wenn man aber nicht die Erkrankung, sondern vorrangig die Person selbst betrachtet, fällt diese Arbeit leichter.“

Bestehen Demenzdörfer zwangsläufig aus Kulissen?

Ein Leben in Kulissen, wie es bei anderen Demenzdörfern oft kritisiert wird, inszeniert Süssendell nicht. Es gibt weder falsche Bushaltestellen, an denen niemals ein Bus hält, noch Supermärkte, in denen Bewohnerinnen und Bewohner mit falschem Geld einkaufen können.

Klas Bauer hält davon nichts. „Für mich ist das Veräppelung“, sagt der Einrichtungsleiter. Ethiker Schweda hat dagegen ein gewisses Verständnis für diesen Ansatz. „Es kommt darauf an, warum das gemacht wird. Um weniger Aufwand, weniger Auseinandersetzung mit den Leuten zu haben? Oder zum Wohle der Personen selbst? Da würde ich ethisch einen Unterschied sehen“, sagt er.

Warum existieren nur wenige Demenzdörfer in Deutschland?

Süssendell scheint einen eigenen Umgang mit Demenz zu haben. Die Einrichtung setzt das Dorf-Konzept flexibel um. Man gewinnt nicht den Eindruck, Menschen würden hier fernab der Gesellschaft festgehalten. Warum gibt es nicht mehr solcher Dörfer? Nötig wäre eine bedarfsgerechte Versorgung allemal. 2022 waren in Deutschland 1,8 Millionen Menschen an Demenz erkrankt. Der DAlzG zufolge wird bis 2050 die Zahl der über 65-Jährigen mit Demenz auf 2,4 bis 2,8 Millionen steigen.

In herkömmlichen Seniorenheimen wird man ihren Bedürfnissen nur schwer gerecht. Das BMG schreibt auf Anfrage der Apotheken Umschau zu seiner „Nationalen Demenzstrategie“, Länder könnten im Rahmen von Förderprogrammen Gelder für Demenzdörfer beantragen. Der Fokus der Länder liege aber auf „Begegnungsräumen, in denen Menschen mit Demenz mit allen anderen Menschen im Quartier zusammenkommen können“.

Dass die Wohnform nicht weiter verbreitet ist, mag an der Kritik liegen, die die ersten Einrichtungen hervorgerufen haben. Oder daran, dass Medien heute seltener darüber berichten. Saskia Weiß gibt zu bedenken, dass die Dörfer Platz und Strukturen brauchen, die es nicht im Bestand gibt. „Das könnte ein unternehmerisches Risiko sein“, sagt sie. Süssendell gehört indes fest nach Stolberg-Mausbach. Christel Lenertz und Rosa Brummer sind jetzt im Garten unterwegs, denn es hat aufgeklart. Sie lachen viel. „Mir geht es gut hier“, sagt Brummer. Und ist es nicht am Ende das, was zählt?

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Quellen: