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Herr Heil, bis 2035 wird es keinen Arbeits­platz mehr geben, der nichts mit künstlicher Intelligenz – also KI – zu tun hat, sagen Fachleute. Bereitet Ihnen das Sorgen oder ist das eine gute Nachricht?

Der Einsatz von künstlicher Intelligenz ist vor allem eine große Chance. Keine Frage, KI wird die Arbeitswelt verändern. Sie kann uns helfen, Arbeit besser zu organisieren und hilft uns, dem Fachkräftemangel zu begegnen. Die Arbeit wird uns nicht ausgehen, aber sie wird anders.

Wie sieht das praktisch aus?

In der Pflege etwa ist menschliche Arbeit unersetzlich. Aber KI kann helfen, Pflegekräfte bei bürokratischen Aufgaben zu entlasten. So sorgen neue Technologien auch dafür, dass die Arbeit wieder menschlicher werden kann. Dafür müssen wir die Weichen richtig stellen.

Wie wollen Sie erreichen, dass die ­Weichen richtig gestellt werden?

Künstliche Intelligenz muss dem Menschen dienen und nicht umgekehrt. Wir müssen die Mitarbeiterinnen und Mit­arbeiter also im Umgang mit den neuen Technologien qualifizieren. Natürlich dürfen wir aber auch die Risiken nicht aus den Augen verlieren. Der Einsatz von KI darf etwa nicht dazu führen, dass Unternehmen Zugriff auf sensible Daten bekommen und Angestellte dauerhaft total überwacht ­werden.

Aber wie stellen Sie das sicher?

Wir werden totale Überwachung mit einem neuen Beschäftigtendatengesetz verhindern. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sollen keine Angst vor der KI haben müssen. Zudem zeigen wir in unseren KI-Studios und mit Vor-Ort-Besuchen bei etwa 2300 Unternehmen in Deutschland anhand von praktischen Beispielen, wie vor allem Beschäftigte in kleinen und mittelständischen Unternehmen von KI-Lösungen profitieren können. Es geht beispielsweise darum, mit KI Arbeit sicherer und gesünder zu machen.

Können Sie ein praktisches Beispiel nennen?

Für Baustellen kann man mit KI Bauunterlagen sichten, um herauszufinden, wo das Unfallpotenzial besonders hoch ist. Hier kann der Arbeitsschutz dann gezielt kon­trollieren und Maßnahmen ergreifen. So wollen wir schwere Unfälle vermeiden. Man kann sagen: KI kann hier Leben retten. Auch im Nahverkehr kommt KI zum Einsatz, um zum Beispiel Schicht- und Routenpläne besser aufeinander abzustimmen. Das entlastet die Beschäftigten und sorgt für weniger Stress am Arbeitsplatz.

Wir werden es künftig also mit einer anderen Arbeitswelt zu tun haben. In den letzten Jahrzehnten hat sich ja auch schon vieles verändert. Was hat Ihre Sicht auf Arbeit geprägt?

Ich bin Jahrgang 1972, in Niedersachsen groß geworden. Meine Eltern haben sich getrennt, als ich sechs war. Ich habe erlebt, wie meine Mutter –alleinerziehend und voll berufstätig – zwei Jungs durchgebracht hat. Das war damals alles andere als üblich und nicht immer einfach.

Auch Ihre Heimatregion hat Sie ­bestimmt geprägt.

Ich bin in Peine in Niedersachsen aufgewachsen. In der Stadt mit 50 000 Einwohnern arbeiteten 10 000 Menschen im Stahlwerk, als ich Jugendlicher war. Heute sind es noch 800. Die Geschichte meiner Heimat ist die vom Wandel der Arbeit, der über Jahrzehnte hinweg erfolgt ist. Nach dem Fall der Mauer bin ich nach Brandenburg gegangen. Hier brachen binnen kürzester Zeit ganze Industriezweige zusammen, es gab Massenarbeitslosigkeit und ich habe erlebt, was das mit Menschen gemacht hat.

Die Menschen dort kennen also Brüche im ­Arbeitsleben und Strukturwandel …

Ja, und diese Erfahrung brauchen wir gerade für die Zukunft. Der Staat kann und soll nicht vor dem Wandel schützen. Aber er muss für Chancen und Schutz im Wandel sorgen.

Auch Corona hat uns einiges abverlangt. Wie hat die Pandemie die Arbeitswelt verändert?

Corona war nicht nur die größte Gesundheitskrise unserer Generation, sondern auch eine tiefe Wirtschaftskrise. Mit Kurzarbeit haben wir millionenfach Arbeits­plätze gerettet. Und wir haben erlebt, dass viel mehr mobile Arbeit möglich ist, als wir vor der Pandemie gedacht haben. Die ­Arbeit im Homeoffice haben die Menschen jedoch sehr unterschiedlich erlebt. Ich selbst habe als Familienvater die Erfahrung gemacht, dass Homeschooling und -office nicht zusammengehen. Das können sicher viele Eltern bestätigen. Hinzu kommt, dass viele Angestellte den Kontakt zu Kolle­ginnen und Kollegen vermisst haben und auch das zu Belastungen geführt hat.

Viele Menschen wünschen sich eine Vier-Tage-Woche. Die kann auch dafür sorgen, dass Beschäftigte seltener krank sind, wie Studien zeigen. Wie ­sollte die Wirtschaft darauf reagieren?

Der Staat kann und sollte nicht für alle Betriebe Arbeitszeitmodelle vorschreiben. Es ist vernünftiger, wenn Beschäftigte und Unternehmer, Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften flexible Arbeitszeitmodelle miteinander verhandeln. Ich habe einzelne Firmen erlebt, die mit einer Vier-Tage-­Woche gute Erfahrungen gemacht haben. Aber ich glaube nicht, dass dieses Modell auf jeden Betrieb und jeden Arbeitsplatz Anwendung finden wird.

Wie könnten solche flexiblen Arbeits­zeitmodelle denn aussehen?

Ich finde es sehr sinnvoll, wenn Beschäftige ihr Arbeitsvolumen im ­Erwerbsverlauf flexibel gestalten können. Manche Menschen wollen Vollzeit arbeiten, andere wiederum möchten vorübergehend kürzer­treten, um Kinder zu betreuen oder Angehörige pflegen zu können. Das sollte ganz selbstverständlich möglich sein und kann in Tarifverträgen geregelt werden.

Auch Gesundheitsschutz wird oft in Tarifverträgen geregelt. Wie bewerten Sie die Gesundheit am Arbeitsplatz in deutschen Unternehmen?

Die Zahl der körperlichen Erkran­kungen und der tödlichen Unfälle im Erwerbsleben ist glücklicherweise rückläufig. Das hat mit dem medi­zinischen Fortschritt zu tun, mit ­besserem Arbeitsschutz, aber auch mit dem Wandel der Arbeit. Man kann sagen, dass wir uns körperlich nicht mehr so kaputtschuften wie ­früher.

Und wie steht es um die seelische ­Gesundheit?

Das ist die Schattenseite: In den vergangenen Jahren ist die Zahl der Menschen, die unter psychischen Erkrankungen leiden, massiv gestiegen. Immer mehr Menschen werden wegen seelischer Belastungen krankgeschrieben. Seit 2011 hat sich die Zahl verdoppelt. Das ist nicht nur für Betrof­fene und ihre Angehörigen ein großes Problem. Psychische Erkrankungen kosten die Volkswirtschaft rund 21 Milliarden Euro im Jahr.

Wie erklären Sie sich diesen ­Anstieg?

Natürlich haben psychische Erkrankungen viele Gründe. Aber es gibt Hinweise darauf, dass unsere beschleunigte Arbeitsgesellschaft damit zu tun hat. Arbeitsverdichtung und der Druck, ständig erreichbar zu sein, hinterlassen Spuren. Prävention muss daher nicht nur den Körper in den Blick nehmen, sondern verstärkt auch die seelische Gesundheit am Arbeitsplatz.

Ist das ein Appell an die Wirtschaft oder ist auch der Staat gefragt?

Wir müssen gemeinsam mehr Bewusstsein für das Thema schaffen. Viele Unternehmen haben da bereits wichtige Schritte unternommen und Hilfsangebote aufgebaut. Wir müssen versuchen, Lösungen auch für kleine und mittelständische Unternehmen zu organisieren, die solche Strukturen nicht alleine vorhalten können.

Mit welchem Ziel?

Beschäftigte müssen sich möglichst frühzeitig öffnen können und Anlaufstellen finden, wenn sie Probleme haben. Das Gesetz gibt darüber hinaus bereits maximale Arbeitszeiten und verpflichtende Ruhepausen vor. Die müssen wir alle ernst nehmen: Wenn Feierabend ist, muss auch wirklich Feier­abend sein. Unser Ziel muss sein, dass Arbeit nicht krank macht.

Herr Heil, vielen Dank für das Gespräch!