Logo der Apotheken Umschau

Frau Prof. Eggert, als ­Direk­torin der Klinik für Pädiatrie und Onkologie an der Charité Berlin behandeln Sie täglich krebskranke Kinder und forschen gleichzeitig an neuen Therapien. Wie häufig ist Krebs bei Kindern?

Angelika Eggert: Erfreulicherweise sehr viel seltener als bei Erwachsenen. Trotzdem haben wir in Deutschland jährlich bis zu 2300 Neudiagnosen bei Kindern und Jugendlichen. Zum Vergleich: Bei den Erwachsenen sind es jährlich insgesamt circa 500 000.

Was sind die häufigsten Krebs­arten bei Kindern?

Häufig sind vor allem akute Leukä­mien und Hirntumore. Es gibt aber auch spezielle Erkrankungen, die nur bei Kindern vorkommen. Dazu zählen die Blastome, das ist mein Fachgebiet. Häufiger sehen wir zum Beispiel Neuroblastome, eine Krebserkrankung des Nervensystems. Neuroblastome sind in der Nebenniere zu finden, entlang der Wirbelsäule, im Bauch- oder Beckenbereich. Auch Retinoblastome, Augentumore, treten häufiger auf.

Krebs entsteht, wenn sich Zellen unkontrolliert vermehren, ist das auch bei Kindern so?

Ja – wobei genetische Veränderungen in der Zelle eine größere Rolle spielen als Umwelteinflüsse. Das macht es uns in der Forschung etwas einfacher, wenn wir uns kindliche Tumore anschauen: Insgesamt ist die genetische Lage bei kindlichen Tumoren weniger komplex. Nur wenige genetische Veränderungen, sogenannte Mutationen, reichen, um einen Tumor auszulösen.

Die Heilungsrate bei Kindern mit Krebs liegt bei mehr als
80 Prozent. Woran liegt das?

Zum Einen wachsen kindliche Tumore sehr schnell – und Chemotherapie wirkt besonders gut bei Tumoren mit einer hohen Wachstumsrate. Ein zweiter Aspekt ist, dass wir in der Kinderonkologie schon lange sehr gut miteinander kooperieren – europaweit. In allen Kliniken gibt es identische Behandlungskonzepte und -protokolle, teilweise auch schon international. Das ist einzigartig. In der Erwachsenen-­Onkologie gibt es sehr viel mehr unterschiedliche Konzepte. Der dritte Aspekt verwundert die meisten: Kinder vertragen viel mehr Chemotherapie.

Obwohl das kindliche Immun­system noch nicht so robust ist wie das eines Erwachsenen?

Man denkt, der Körper ist jung und sensibel, aber das Gegenteil ist der Fall: Die Organe sind frisch, jung und unbeschädigt – Niere, Leber, Herz und Lunge vertragen ganz andere Mengen an Chemotherapie. Wenn wir die Chemotherapie pro Kilo Körpergewicht in einen Erwachsenen geben würden, die wir den Kindern zumuten, würde der Erwachsene aller Wahrscheinlichkeit nach sterben. Aber bei Kindern trägt die Aggressivität der Chemotherapie definitiv zur hohen Heilungsrate bei.

Krebstherapien haben in den vergangenen Jahren rasante Fortschritte gemacht. Auch in der Kinderonkologie?

Lange bestand das Konzept vor allem darin, die vorhandenen Chemotherapie-Medikamente in anderer Weise miteinander zu kombinieren oder anders zu verabreichen, um damit Fortschritte zu erzielen. Das hat über viele Jahre gut funktioniert. Aber irgendwann war das Prinzip ausgereizt. Gute Erfahrungen haben wir seitdem mit Medikamenten gemacht, die gezielt die Oberfläche der Krebszelle angreifen. Das führt aber schnell dazu, dass die Krebszelle resistent wird gegen das Medikament, es wirkt nicht mehr. Wahrscheinlich ist es besser, nicht nur ein Medikament zu verabreichen, sondern einen Cocktail verschiedener Substanzen, um dem vorzubeugen. Daran forschen wir gerade.

Neue Immuntherapien sollen zudem das körpereigene Immunsystem so stimulieren, dass es den Krebs bekämpfen kann. Werden diese auch bei Kindern eingesetzt?

Die Immuntherapien haben sich in den vergangenen fünf bis acht Jahren rasant entwickelt und uns Ergebnisse beschert, von denen wir vorher nicht zu träumen gewagt hätten. Vorwiegend setzen wir diese Möglichkeit bei Kindern ein, die einen Rückfall hatten und auf die Chemotherapie nicht mehr ansprechen. In Einzelfällen waren wir gezwungen, ausschließlich auf die Immuntherapie zu setzen – etwa wegen schwerer Nebenwirkungen der Chemotherapie – und das hat in Einzelfällen auch schon funktioniert.

Werden in Zukunft immer mehr Kinder mit Krebs von dieser Art der Behandlung profitieren?

Ich glaube nicht, dass die alleinige Immuntherapie bei jeder Krebserkrankung funktioniert. Aber es scheint einzelne nicht ganz so aggressive Krebsarten zu geben, die man damit gut bekämpfen kann. In Zukunft müssen wir herausfinden, wo die Immuntherapie weiterhelfen kann und wo wir damit zunehmend die Chemotherapie – zumindest in einzelnen Elementen – ersetzen und die Behandlung für die Kinder verträglicher machen können. Die Hauptsäule der Behandlung aber bleibt momentan die Chemotherapie.

Man darf nicht jede Tür der Hoffnung zumachen.

Sie engagieren sich auch für den Verein Vision-Zero e. V., der zum Ziel hat, die Zahl der krebsbedingten Todesfälle gegen null zu bringen. Ist das in der Kinder­onkologie möglich?

Bei einer so lebensbedrohlichen Erkrankung auf eine Heilungsrate von 100 Prozent zu kommen, ist ein hehres Ziel. Aber wir sind auf einem guten Weg. Der Zeitpunkt, an dem wir aufgeben müssen, verschiebt sich immer weiter nach hinten, das ist gut und richtig so. Und es gibt Erkrankungen im Kinderbereich, da sind wir schon bei einer Heilungsrate von 95 Prozent, etwa beim Hodgkin-Lymphom oder bestimmten Formen der Leukämie. Aber eben nicht im Durchschnitt und da möchten wir gerne hin.

Seit September 2022 wird das von Ihnen geleitete Zentrum von der Deutschen Krebshilfe mit insgesamt 2,5 Millionen Euro gefördert. Wie wichtig ist diese Unterstützung für Ihre Arbeit?

Sehr wichtig! Uns fehlten vorher die Ressourcen für Studien in der Kinder­onkologie. Es sind im Vergleich zur Erwachsenenonkologie wenige Patien­tinnen und Patienten, der Aufwand ist groß und oft fehlen die Mittel, das zu finanzieren. Zum Glück fördert die Deutsche Krebshilfe nun zwei solcher Zentren, in Berlin und Heidelberg.

Wie erklären Sie den Eltern Ihrer kleinen Patientinnen und Patienten, warum die Teilnahme an einer Studie wichtig ist? Erst einmal klingt das beängstigend.

Wichtig zu wissen ist: Wir testen hier kein unbekanntes Medikament, die Kinder sind keine Versuchskaninchen. Denn es geht nicht darum, ein neues, unbekanntes Medikament als Zulassung im Sinne der Pharmaindustrie zu testen. Sondern darum, das gerade beste Therapiekonzept mit einer ­neuen, besseren Idee zu vergleichen und so die Therapie zu optimieren. Davon profitieren die Kinder jetzt, gleichzeitig verbessern wir die Behandlung für zukünftige Patientinnen und Patienten.

Was ist eine besondere Herausforderung in der Kinderonkologie?

Natürlich nehmen wir Ärztinnen und Ärzte viele Erlebnisse mit nach Hause. Wir geben nicht gerne ein Kind auf. In dem Moment, wo nichts mehr funktioniert, ist das eine Belastung und muss es auch bleiben. Generell ist es eine Herausforderung, wenn Eltern ihr Kind nicht loslassen können, obwohl es keine Heilungsaussicht mehr gibt. Das ist ganz schwer zu vermitteln.

Wie versuchen Sie das?

Man darf nicht jede Tür der Hoffnung zumachen. Muss vielleicht milde Dinge noch ausprobieren, aber ohne dem Kind zu schaden. Wenn das Kind stirbt, muss die Familie wissen, es wurde ­alles probiert, was möglich war, nie­mand hat auf halber Strecke aufgegeben. Das ist für Eltern ganz schlimm, wenn sie das Gefühl haben, wir würden ihr Kind aufgeben. Das darf auf keinen Fall passieren.

Wie verarbeiten Sie diese Erfahrungen?

Indem ich darüber spreche. Für mich funktioniert das am besten im privaten Bereich, andere profitieren von pro­fessioneller Hilfe. Da muss jeder seinen Weg finden.

Was macht Sie froh?

Wenn wir es gegen jede Wahrscheinlichkeit schaffen, ein Kind zu retten. Wenn wir eine Idee haben, was helfen könnte, und sie funktioniert. Jedes Jahr behandeln wir zwei bis drei Kinder, bei denen niemand mit einer Heilung gerechnet hätte. Wo allen klar war, dieses Kind wird sterben. Und gegen all diese Widerstände haben wir es geschafft. Das macht richtig Freude und löst in mir ein Zufriedenheitsgefühl aus, das mir die Forschung nicht geben kann. Das ist so unmittelbar, das bekommt man nur in der Klinik, bei der Arbeit mit den Patientinnen und Patienten.