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Frau Wiegand, zwei Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland sind übergewichtig, davon sind 800 000 sogar fettleibig, also adipös. Dieser Trend hat sich seit den 1990er-Jahren verfestigt. Nun haben die Einschränkungen der Corona-Pandemie das Problem noch verstärkt, warnen Sie. Woran machen Sie das fest?

Dr. Susanna Wiegand: Die jüngsten erhobenen Daten zu Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland stammen aus der breit angelegten KiGGS-Studie mit Daten von 2014 bis 2017. Wir wissen aber von niedergelassenen Kinderärztinnen und -ärzten und den Spezialsprechstunden zu Adipositas und anderen Erkrankungen, die mit Übergewicht in Zusammenhang stehen: Es kommen deutlich mehr Kinder mit Übergewicht. Die Kolleginnen und Kollegen sehen etwa bei den Vorsorgeuntersuchungen Kinder, die in den letzten anderthalb Jahren erheblich und drastisch zugenommen haben – mitunter 30 Kilo in sechs Monaten.

Dr. Susanna Wiegand leitet am Sozialpädiatrischen Zentrum der Berliner Charité den Bereich Adipositas

Was läuft hier falsch?

Grundsätzlich macht bei Kindern die angeborene Anlage etwa 50 Prozent der Gewichtsentwicklung aus, der Rest wird durch das eigene Verhalten und die Verhältnisse bestimmt. Es liegt also viel an der ungünstigen Umgebung, dass es ­heute viel schwieri­ger ist als früher, gesund zu essen und sich ausreichend zu be­wegen. Die Corona-Lockdowns haben dies noch verstärkt.

Welche Bedingungen sind un­günstig fürs Gewicht?

Das liegt viel am Angebot der Lebensmittel- und Getränkeindustrie. Im Ver­gleich zu vor 20 oder 30 Jahren gibt es heute sehr viele verschiedene ge­süßte Fertigprodukte, deren Verpackung auch noch speziell Kinder anspricht. Zudem bewegen sich Kinder im Mittel immer weniger. Sie werden mehr mit dem Auto gefahren und verbringen oft viel Zeit mit Handy und Tablet.

Was müsste sich gesellschaftlich ändern, damit es Kinder und Familien leichter haben, ein gesundes Gewicht zu halten?

Da gibt es viele Punkte. Die Werbung für ungesunde Lebensmittel könnte verboten werden. Der Nutri-Score, also die Nährwertkennzeichnung von Lebensmitteln, sollte verpflichtend sein. Ungesunde Lebensmittel könnten noch höher, gesunde niedriger besteuert werden. Die Verpflegung in Schulen und vielen Kitas müsste besser werden. Die Kommunen sollten dafür sorgen, dass alle Kinder mit dem Rad oder zu Fuß zur Schule kommen können. Die Grund­schulen könnten noch mehr für Bewegung tun, Sportvereine mehr in die Schulen integriert werden. Hallenbäder sollten für alle erschwinglich sein.

Was bedeutet es, wenn Kinder von klein auf übergewichtig sind?

Schon ab dem Schulalter haben sie Folge­erkrankungen, die wir sonst nur bei älteren Menschen erwarten. Das sind etwa Vorstufen einer Zuckerkrankheit, hoher Blutdruck, Probleme mit der Muskulatur und den Gelenken, Fehlstellungen und eine deutlich verminderte Leistungsfähigkeit. Ein Kind mit 30 Kilo Übergewicht kann sich nicht altersentsprechend bewegen. Versuchen Sie mal, mit einem 30-Kilo-Rucksack Sport zu machen, das geht nicht. Und: Aus Kindern mit Adipositas werden mit hoher Wahrscheinlichkeit Erwachsene mit Adipositas. Früh gegenzusteuern ist sehr wichtig.

Wie geht es übergewichtigen und fettleibigen Kindern psychisch?

Sie haben viel mit Stigmatisierung zu kämpfen, werden im Sportunterricht gehänselt. Sie wollen zum Beispiel nicht ins Schwimmbad, weil sie sich nicht ausziehen wollen und sich schämen. Viele ziehen sich sehr zurück. Sie gehen zur Schule und haben ansonsten keine weiteren Aktivitäten. In ihrer Freizeit sind sie in ihrem Zimmer mit Medien beschäftigt.

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Sehen Sie in Ihrer Sprechstunde auch schon Babys und Kleinkinder, die übergewichtig sind?

Zu uns kommen die Kinder meistens erst später. Aber ja, auch manche Babys und Kleinkinder haben Übergewicht. Bei voll gestillten Kindern ist das meist nicht schlimm und verwächst sich oft wieder. Wenn Kleinkinder nach dem Abstillen übergewichtig bleiben, muss man genau hin­schauen, um seltene Krankheiten nicht zu übersehen. Meist fällt Übergewicht erst ab der Einschulung und in der Pubertät auf.

Dann sind also Einschulung und Pubertät die sensiblen Phasen für die Entstehung von Übergewicht?

Das kann man so nicht sagen, es entsteht ja vorher. Wir beurteilen das Gewicht wie bei den Erwachsenen nach dem Body-Mass-Index (BMI). Im Vorsorgeheft des Kindes sieht man dazu Kurven, die die normale Entwicklung abbilden. Die BMI-Kurve geht bis zum ersten Geburtstag steil nach oben, dann geht sie runter und flacht ab. Erst ab einem Alter von etwa fünf oder sechs Jahren beginnt sie wieder zu steigen. Wenn sich ein Kind nicht entlang dieser Kurve entwickelt, sondern der BMI früher plötzlich ansteigt, sollten Eltern und Kinderärztin oder -arzt alarmiert sein und nachforschen. Adipositas kann durchaus schon im Kita-Alter begünstigt werden.

Wie kommt es dazu?

Ein Klassiker sind Kleinkinder, die fast immer im Buggy sitzen und zusätzlich zum normalen Essen über den Tag verteilt drei Nuckelflaschen mit hochkalorischer Pre- oder Folgemilch oder verdünntem Brei bekommen. Ab dem ersten Geburtstag sollte man ­keine Flaschennahrung mehr geben. Viele bekommen aber selbst mit drei oder vier Jahren noch ihre Flaschen. Auch essen Kleinkinder mit Übergewicht oft viel süße Breie und trinken süße Getränke.

Kleine Kinder verweigern gern gesünderes Essen wie Gemüse. Wie können Eltern damit umgehen?

Unser aller Geschmack ist von Geburt an in Richtung süß geprägt. Kleinkinder, auch schon Babys bei der Beikost, sollten unterschiedliche Geschmacks­erfahrungen machen. Natürlich mögen kleine Kinder nicht alles, aber es ist wichtig, dass sie alles kennenlernen – um es irgendwann gerne zu essen.

Wie bekomme ich eine starke Süßprägung wieder weg?

Um das zu verändern, muss man den Zuckergehalt in der Nahrung drastisch, aber langsam und in kleinen Schrit­ten senken. Nur dann kann das Kind Lust auf andere Geschmacksrichtungen entwickeln. Die Süßprägung abzugewöhnen, ist harte Arbeit. Ein bisschen so, wie wenn sich ein Erwachsener das Rauchen abgewöhnt. Aber wenn man das konsequent macht, mögen Kinder auch Lebensmittel, die sie vorher nicht gemocht haben.

Was können Eltern schon in der Schwangerschaft für ein gesundes Gewicht des Kindes tun?

Werdende Mütter sollten sich gesund ernähren, ausreichend bewegen und nicht rauchen. Babys, die vor der Geburt über- oder un­terversorgt wurden, haben ein höheres Risiko, später Übergewicht zu entwickeln.

Stillen wird oft zur Vorbeugung gegen Übergewicht empfohlen. Gilt das ohne Einschränkung?

Studien zeigen, dass gestillte Kinder im späteren Leben weniger häufig Übergewicht entwickeln. Auch wenn man lange Muttermilch gibt, muss man sich keine Sorgen wegen des Gewichts machen. Denn der Nährstoff­gehalt der Muttermilch nimmt mit dem Alter des Kindes ab. Darüber hinaus helfen viele Faktoren, Übergewicht zu vermeiden, zum Beispiel eine bewegungsfreundliche Umgebung oder gesundes Kita-Essen. Das kommt allen Kindern zugute.