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"Wann dreht sich das Kleine endlich? Das Nachbarskind konnte das doch schon mit vier Monaten!" Solche Seufzer hört man von Eltern häufig. Die meisten achten sehr genau auf jeden Entwicklungsschritt ihrer Kinder. Und vergleichen sie oft mit anderen Babys. Doch wo steht eigentlich, wann Kinder normalerweise Dinge können – und ab wann es besorgniserregend ist, wenn sie sie nicht können?

Bisherige Daten sind relativ alt

Der Wissenschaftler Dr. Heinz Krombholz beschäftigt sich schon lange mit diesen Themen und stellte fest: Die Tabellen, mit denen Ärzte, Psychologen, Heilpädagogen und Bewegungstherapeuten momentan die motorische Entwicklung von Kindern beurteilen, sind relativ alt. Auf welche Daten sie sich beziehen, ist häufig unklar. "Bohrt man nach, stellt sich oft heraus, dass einige der Daten aus den 1930er-Jahren stammen", erklärt er. "Und teilweise anhand sehr kleiner Stichproben gewonnen wurden." Die US-Amerikanerin Nancy Bayley beobachtete für ihre Studie aus dem Jahr 1937 zum Beispiel nur rund 50 Kinder aus ihrem Bekanntenkreis, also aus der oberen Mittelschicht.

Dr. Heinz Krombholz ist Diplom-Psychologe und war am Staatsinstitut für Frühpädagogik in München tätig

Dr. Heinz Krombholz ist Diplom-Psychologe und war am Staatsinstitut für Frühpädagogik in München tätig

Die aktuellste Unter­suchung führte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in den Jahren 2001 bis 2003 durch. Sie betrachtete sechs motorische Meilensteine, Kinder in Deutschland waren dabei jedoch nicht mit eingeschlossen.

Entwicklung wird aktuell untersucht

Weil die motorische Entwicklung ihrer Kinder für Eltern so ein großes Thema ist, die Datenlage aber gleichzeitig so dünn, hat Krombholz 2013 am Staatsinstitut für Frühpädagogik (IFP) in München das Projekt Meilensteine gestartet. Die Studie untersucht die Bewegungsentwicklung von Säuglingen und Kleinkindern in den ersten beiden Lebensjahren anhand von 18 Meilensteinen.

In einem Entwicklungskalender, in dem die einzelnen motorischen Meilensteine wie zum Beispiel Kopfheben, Umdrehen, Greifen, Krabbeln oder Laufen aufge­­listet sind, erfassen die teilnehmenden Eltern, wann ihr Nachwuchs welchen Schritt gemacht hat. Die Reihenfolge, in der die Meilensteile erreicht werden, ist dabei weitgehend gleich. "Bevor ich krabb­le, muss ich meinen Kopf heben können, und um mich beim Hinstellen festzuhalten, muss ich greifen können", erklärt Krombholz.

Die Forscher stellen Fragen wie: Inwieweit bestehen Zusammenhänge zwischen dem Erreichen bestimmter Meilensteine und dem Geburtsverlauf, dem Geschlecht des Kindes und der Stellung in der Geschwis­­terreihe? Hat das Vorbild eines älteren Geschwisterkindes beispielsweise ­­einen Einfluss? Und: Profitiert ein Baby davon, wenn seine Eltern mit ihm für einen Meilenstein trainieren?

Erste Ergebnisse: Tabellen noch weitgehend gültig

Auch wenn die Untersuchung noch nicht ganz abgeschlossen ist, veröffentlicht Heinz Krombholz regelmäßig Zwischenergebnisse. Tatsächlich zeigte sich, dass der Zeitpunkt des Auftretens eines Meilensteines sowie die Reihenfolge überwiegend mit den Angaben aus bestehenden Entwicklungstabellen übereinstimmen. Auch der Vergleich mit den sechs Meilensteinen der WHO-Studie weist ­keine wesentlichen Unterschiede auf. "Wir vermuten, dass die endgültigen Ergebnisse einen etwas größeren Streubereich zeigen werden. Damit können Eltern von einer normalen Entwicklung ihres Kindes ausgehen, auch wenn diese vom Mittelwert der Meilensteintabelle erheblich abweicht", so der Diplom-Psychologe. Krombholz betont, dass die bisher vorliegenden Ergebnisse als vorläufig angesehen werden sollen und sich – wenn weitere Beobachtungsdaten vorliegen – durchaus ändern könnten.

Die Zwischenergebnisse im Überblick

* 68 Prozent der beobachteten Kinder liegen innerhalb des Bereichs Mittelwert plus/minus der Standardabweichung

Meilenstein

   Durchschnittliches Alter

   Standardabweichung*

Hände zusammenführen

2,3 Monate

1,1 Monate

Kopf heben in Bauchlage

2,2 Monate

1,2 Monate

auf den Bauch drehen

4,7 Monate

1,3 Monate

auf den Rücken drehen

5,2 Monate

1,7 Monate

frei sitzen mit Hilfe

7,2 Monate

1,6 Monate

selbstständig aufsetzen

8,5 Monate

1,6 Monate

robben

7,1 Monate

1,5 Monate

krabbeln

8,5 Monate

1,7 Monate

aufstehen mit Hilfe

8,8 Monate

1,7 Monate

freies Stehen mit Hilfe

11,6 Monate

2,4 Monate

seitliches Gehen mit Hilfe

10,2 Monate

2,1 Monate

aufrichten und stehen

12,6 Monate

2,4 Monate

frei gehen

12,9 Monate

2,2 Monate

frei und sicher gehen

13,7 Monate

2,2 Monate

gezielt greifen

3,2 Monate

1,1 Monate

Handwechsel

5,7 Monate

2,0 Monate

Pinzettengriff

6,7 Monate

2,3 Monate

Zangengriff

7,8 Monate

2,3 Monate

Die Eltern der momentan an der Studie teilnehmenden 3200 Babys machten zudem weitere Angaben, ­etwa über Geburtsgewicht, Stillmonate, Ort der Geburt, Schulabschluss der Eltern oder die Anzahl der Geschwister. "Wir wollen untersuchen, inwiefern Faktoren wie diese die motorische Entwicklung beeinflussen", sagt Krombholz. Bisher bestand beispielsweise der Verdacht, dass gestillte Kinder gegenüber nicht gestillten einen leichten Entwicklungsvorsprung haben. Dies konnte die Studie jedoch bisher nicht statistisch signifikant bestätigen.

Baby-Kurse bringen keinen Entwicklungsvorsprung

Wie schnell ein Kind feinmotorisch geschickter wird, hängt dagegen tendeziell davon ab, ob es alleine in einer Familie aufwächst oder Geschwister hat: Erstgeborene erreichten fünf Meilensteine, die die Feinmotorik und die Handgeschicklichkeit betreffen, früher als Kinder mit Geschwistern. „Vermutlich liegt das daran, dass Eltern sich offensichtlich intensiver mit ihren Erstgeborenen beschäftigen“, sagt Krombholz.

Anders bei der Grobmotorik: Faktoren, wie beispielsweise das Tragen im Tragetuch oder der Babytrage, hatten keinen Einfluss auf beispielsweise das Laufen lernen. "Das hat mich persönlich überrascht", sagt Krombholz. Es zeige sich, dass auch Fördermaßnahmen der Eltern jeglicher Art, wie spezielle Babykurse, die Geschwindigkeit der motorischen Entwicklung nicht beeinflussen. Weitere Faktoren wie etwa das Alter der Mutter oder außer­familiäre Betreuung scheinen ebenfalls keinen Einfluss zu haben. "Das heißt, die grobmotorische Entwicklung scheint zumindest im Babyalter weitestgehend genetisch festgelegt zu sein", folgert Krombholz. "Eltern können sie offenbar nicht fördern – höchstens behindern, indem sie die Bewegungsmöglichkeiten zu sehr einschränken."

Der Experte empfiehlt, dem Baby Freiräume zu bieten, die es zur Bewegung anregen. Sitzt es zum Beispiel den ganzen Tag in der Wippe oder Babyschale, behindert das seinen Bewegungsdrang. "Besser hat es ein Kind, wenn es immer wieder auf einer Decke liegen und strampeln darf", sagt Krombholz.

Geburtsgewicht und Geschlecht haben leichten Einfluss

Ein erfreuliches Ergebnis: Bei Kaiserschnitt-Kindern konnte kein Unterschied in der motorischen Entwicklung nachgewiesen werden. Frühgeborene erreichten die frühen motorischen Meilensteine – bis zum Alter von 9 Monaten – jedoch später als Termingeborene. Der Rückstand betrug fast 4 Wochen – Kinder, die kleiner und leichter zur Welt kamen waren stärker betroffen als solche mit durchschnittlichem Gewicht und Körperlänge. Einen leichten, aber nicht signifikanten Zusammenhang zwischen Geburtsgewicht und Köpfchenheben konnten die Wissenschaftler außerdem feststellen: Je höher das Gewicht eines Babys bei der Geburt gewesen war, umso schneller konnte es seinen Kopf zum ersten Mal heben und auf die Unterarme aufgestützt drei Sekunden lang halten. Auf das Robben wirkt sich ein höheres Geburtsgewicht hingegen eher hinderlich aus: Je schwerer ein Kind war, umso später robbte es.

"Interessanterweise scheint außerdem das Geschlecht die Fähigkeit zu beeinflussen, selbstständig zu sitzen", erklärt Krombholz. Mädchen täten dies im Schnitt einen Monat früher als Jungen. Generell seien Mädchen etwas flotter in der Entwicklung als Jungen, abgesehen vom Sitzen sei der Unterschied allerdings nicht statistisch bedeutsam.

Zu dem Zeitpunkt, zu dem die Kinder frei gehen konnten, zeigte sich: Kinder, die bereits eine ausgeprägte Präferenz für die rechte Hand zeigten, bewältigten die meisten der Meilensteine früher als linkshändige und Kinder ohne Bevorzugung einer Hand. Der Anteil der Jungen unter den Linkshändern war deutlich höher als der der Mädchen.

Die Neuanmeldung zur Studie wird 2023 eingestellt, die Datenerfassung der angemeldeten Teilnehmer läuft aber natürlich noch weiter. Heinz Krombholz ist auf die endgültigen Ergebnisse gespannt und wird diese mit denen aus internationalen Studien vergleichen.

Wann zum Arzt?

Welche Ergebnisse die Studie auch immer zutage fördern wird, an ­einer Tatsache wird sich sicher nichts ändern: Die Entwicklungsspannen im Bereich der Motorik sind sehr groß. Jedes Kind ist eben anders. Das betont der Wissenschaftler. Wenn also die Tochter mit ihren sieben Monaten auf dem Bauch liegend ihre Umgebung beobachtet, während der gleichaltrige Nachbarssohn bereits ­entdeckungsfreudig durchs Haus ­robbt, können Eltern gelassen bleiben. Deshalb liegt Heinz Krombholz dieser Rat an alle Mütter und Väter besonders am Herzen: "Vergleichen Sie Ihr Baby nicht mit anderen Kindern. Richten Sie Ihren Blick lieber auf das, was es kann."

Sogar, wenn ein Meilenstein noch nicht innerhalb der angegebenen Standardabweichung erreicht wird, ist das laut Krombholz oft kein Grund zur Besorgnis. "Krabbelt das Kind zwar noch nicht in der angegebenen Zeitspanne, ist aber ansonsten neugierig und versucht, Gegenstände zu erreichen, ist meist alles in Ordnung", sagt Krombholz. Eltern sollten dann den Kinderarzt lediglich beim nächsten Besuch darauf hinweisen. "Besorgniserregend wird es höchstens, wenn ein Kind wenig Interesse für seine Umwelt zeigt", sagt Krombholz. Dann sollten Eltern auch außerhalb der vorgesehenen Untersuchungen einen Kinderarzt aufsuchen.

Und: Für Frühgeborene müssen ohnehin andere Maßstäbe gelten, so der Experte. "Je größer die Differenz zum errechneten Entbindungstermin, desto weniger können wahrscheinlich die Entwicklungstabellen herangezogen werden", erklärt er. Welche alternativen Werte für Frühchen gelten, hofft Krombholz am Ende seiner Untersuchung ebenfalls angeben zu können.

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