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Ein Jahr lang probieren, ein Kind zu bekommen, ist normal, sagt die ärztliche Leitlinie. Wann kommen Paare zu Ihnen?

Miriam Hartz: Ein Jahr ist für viele schon ganz schön lang. Einmal kam ein Paar bereits nach drei Monaten mit der Sorge, dass etwas nicht stimmt. Der Stress tritt also relativ schnell ein.

Woran liegt das?

Wir sind jahrelang mit Verhütung beschäftigt, sodass viele denken: Wenn wir damit aufhören, werden wir direkt schwanger. Klappt dieses Vorhaben nicht schnell genug, geht der Stress­level vor allem bei Frauen nach oben.

Aber nach drei Monaten ist doch noch kein Handlungsbedarf, oder?

Es ergibt medizinisch und psycholo­gisch Sinn, es ein Jahr auf natürlichem Weg zu probieren. Und nach zwölf Fehlversuchen kann man dann genauer nachsehen. Die meisten Frauen sind eh schon seit ihrer Jugend bei einer ­Gynäkologin oder einem Gynäkologen.

Sind die Männer nicht auch stark beteiligt? Stichwort Sperma …

Das stimmt. Und sie sind nicht gut auf das Thema vorbereitet. Frauen übernehmen gerade zu Beginn der Kinderwunschzeit viel Verantwortung. Oft werden Männer erst in der Kinderwunschklinik auf ihre Fruchtbarkeit hin geprüft. Davor haben viele keine ­Ahnung, was ein Androloge oder ­Urologe mit Fortpflanzung zu tun hat.

Wie geht es Paaren, wenn sie zum ersten Mal ins Kinderwunschzentrum kommen?

Es ist eine Mischung aus unglaublicher Erleichterung, dass es jetzt weitergeht, und totaler Sorge, was noch kommt. Und es schwebt die Angst über allem: Was tun, wenn es nicht klappt? Können wir dann wieder glücklich werden?

Sind es eher körperliche oder psychische Gründe, die es erschweren, ein Baby zu bekommen?

Ein ganz großer Faktor ist das Alter der Frau. Die Fruchtbarkeit nimmt ab 32 Jahren deutlich ab. Bei Männern flacht die Fortpflanzungskurve etwas später und langsamer ab. Zusätzlich gibt es klare medizinische Gründe, die nicht immer so leicht gefunden werden.

Welche können das sein?

Möglich ist zum Beispiel eine Endometriose. Das ist eine Unterleibs­erkrankung bei Frauen. Die Behandlung kann einen positiven Einfluss auf die Schwangerschaftswahrscheinlichkeit haben. Und beim Mann kann ein eingeschränktes Spermiogramm ­vorliegen. Das bedeutet, die Anzahl und/oder die Qualität der Spermien sind verringert. Es gibt aber noch ­andere Faktoren, die mit reinspielen.

Ein gut gemeinter Tipp ist oft, dass sich Paare nur mal richtig entspannen müssten, oder?

Die Stresshypothese hält sich wacker, gehört allerdings zur Kategorie der Küchenpsychologie. Es gibt keine Studie, die diese Hypothese wirklich stützt. Ich vermute, sie entstammt der totalen Ohnmacht, irgendein Erklärungsmodell zu haben, wenn keine medizinischen Gründe gefunden werden.

Und was ist mit den typischen Urlaubsgeschichten?

Wenn wir entspannter sind, haben wir häufig mehr Sex. Und bei jungen gesunden Paaren kann das natürlich fix zu Nachwuchs führen. Aber ein Paar, bei dem die Einnistung erschwert oder das Spermiogramm eingeschränkt ist, kann noch so oft in den Urlaub fahren. Eine Schwangerschaft tritt dadurch alleine nicht ein.

Wie viele Frauen sich wohl völlig unnötig unter Druck setzen …

Frauen gehen deswegen sogar in Psychotherapie oder zwingen sich zu Entspannungstechniken. Sie suchen den Fehler bei sich. Und dann kommt Monate später heraus, dass es eine klare medizinische Diagnose gibt – sei es bei ihr oder dem Mann – und andere Wege genommen werden können, um schwanger zu werden.

Was raten Sie einem Paar, das es schon über ein Jahr probiert hat?

Ein solches Paar sollte auf jeden Fall in ein Kinderwunschzentrum gehen. Dort kann durch medizinisches Fachpersonal ausgelotet werden, welche Optionen möglich sind und wo die Grenzen liegen. Gute Aufklärung ist wesentlich – unabhängig davon, ob das Paar dann weitermachen möchte oder nicht.

Gibt es dort auch psychologische Beratung?

Noch nicht flächendeckend. Manche Zentren sind aber im engen Austausch mit uns und verweisen auf zertifizierte Beraterinnen, damit Betroffene stabil durch die Kinderwunschzeit kommen. Das ist manchmal hilfreich, bevor mögliche erste Rückschläge kommen. Diese Phase fordert viel Energie.

Wie kann ich einem befreundeten Paar helfen, das in einer solchen Kinderwunschsituation steckt?

Es ist ein sehr schambehaftetes ­Thema. Viele Paare haben Angst davor, dass jetzt alle mit schlauen Tipps ankommen. Und dann ist
da auch häufig die „Schuldfrage“: An wem liegt es?

Also wer ist verantwortlich, dass es mit dem Baby nicht klappt?

Genau. Ich kann Paare verstehen, die sagen, wir begeben uns in eine Art Tunnel und umgeben uns nicht mit Menschen, die vermeintlich unsensibel mit dem Thema umgehen. Viele Paare verstummen regelrecht. Dabei ist ein unterstützendes Umfeld so wichtig.

Was kann ich als Freundin machen, um nicht unsensibel zu sein?

Wenn jemand ein Problem hat, wollen wir Menschen gerne ein Pflaster draufkleben. Als wäre das Problem damit weg. Das ist eine Illusion und auch ein Schutzmechanismus, um das Problem der anderen von sich fernzuhalten. Was Freunden in Krisen aber ernsthaft hilft, ist Spiegelung.

Was bedeutet Spiegelung?

Sie sprechen aus, was Sie wahr­nehmen. Auf das Paar bezogen könnte das sein: „Ich erlebe, dass ihr eine schwere Zeit habt. Ich verstehe, dass euch viele Sorgen beschäftigen.“ Damit respektiert und würdigt man erst einmal, dass es für die Freunde eine schwere Zeit ist. Und dann kann man erfragen, was die Freunde von einem brauchen. Wenn wir so klug und sensibel mit anderen Menschen in schwierigen Situationen umgehen, ist schon viel gewonnen.

Und Tipps besser runterschlucken?

Wir denken viel in Problem und Lösung. Dabei wollen Menschen in Krisen in erster Linie gehört und verstanden werden. Das ist die eigentliche emotionale Unterstützung. Die Krise bewäl­tigen können die Paare dann nur selbst.

Wie lange besteht denn eigentlich Hoffnung für ein Paar?

Das ist so individuell. Es muss geklärt werden, mit welchen Krankheitsbildern die Paare kommen, zu was sie bereit sind, wie viel Zeit sie sich nehmen.

Gibt es eine Empfehlung?

Ich erarbeite mit den Frauen oder Paaren, sich genau zu überlegen: Was können wir uns leisten? Was ist die statistische Wahrscheinlichkeit und Empfehlung der Ärzte zu Behandlungsmöglichkeiten? Wie viele Versuche ­nehmen wir uns vor? Aus psycho­logischer Sicht sollten Paare das Zeitfenster eher eng legen, darin aber viel Raum für das Thema geben.

Und wenn es dann nicht klappt, ist Schluss? Auch ohne Baby?

Lieber in enger Absprache mit den Ärzten ein paar Jahre volle Energie reingeben – und dann sagen können: Nach so und so vielen Versuchen haben wir im Kopf und im Herzen ver­standen, dass wir ungewollt kinderlos bleiben. Aber wir haben in unserem Rahmen alles getan. Das braucht es für die Bewältigung.

Wie kann man loslassen?

Wenn Paare sagen können, sie haben alles getan, dann kann sich der Weg öffnen. Dann beginnen Trauer und Loslassen. Manche sind auch schon früher an einem Punkt, an dem sie nicht mehr wollen. Weil es die Beziehung ­massiv belastet hat. Alles, was wir aktiv ­entscheiden, stärkt uns. Dafür brauchen wir die Erfahrung der Kinderwunschbehandlung – aber nicht bis ins Unendliche.

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Quellen: