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Frau Dr. Kohl, was Angehörige von Demenzkranken belastet, ist meist weniger die Vergesslichkeit des Patienten als sein Verhalten, etwa nächtliche Unruhe. Können Medikamente da helfen?

Menschen mit Demenz bekommen Beruhigungsmittel meist aufgrund von psychischen und Verhaltenssymptomen verschrieben. Die Bandbreite der Symptome, die im Laufe der Erkrankung auftreten können, ist groß: Ängste, Unruhe, Aggressionen, enthemmtes Verhalten, Hinlauftendenz, Schlafstörungen, aber auch Halluzinationen oder Wahn. Bei diesen Symptomen können Beruhigungsmittel durchaus für einen gewissen Zeitraum notwendig und hilfreich sein. Am häufigsten kommen Antipsychotika zum Einsatz.

Wie wirken diese Medikamente?

Antipsychotika, die etwa auch bei Schizophrenie angewendet werden, helfen sehr gut gegen psychotische Symptome wie Halluzinationen oder Wahn. Tatsächlich werden diese Medikamente bei Demenz jedoch meist wegen anderer Symptome wie etwa Unruhe verordnet. Man macht sich eine Nebenwirkung der Antipsychotika zunutze: die sedierende, also beruhigende Wirkung. Diese unterdrückt das unerwünschte Verhalten. Das kann phasenweise nötig sein, allerdings sollte die Medikation nur vorübergehend gegeben werden. Die dauerhafte Gabe ist ein Problem.

Warum?

Antipsychotika haben viele Neben-
wirkungen, gerade bei älteren Menschen mit Demenz. Sie machen schwindelig, senken den Blutdruck und können mit Muskelsteifigkeit einhergehen, das verstärkt die Sturzgefahr. Zudem können Antipsychotika die geistigen Fähigkeiten beeinträchtigen – das ist natürlich etwas, was man gerade bei Demenz vermeiden will. Antipsychotika können durch die dauerhafte Sedierung auch die Lebensqualität verringern, und sie erhöhen das Schlaganfall-Risiko.

Trotzdem bekommen rund 40 Prozent der demenziell Erkrankten in Deutschland diese Mittel. Warum?

Dafür gibt es viele Gründe. Ich denke, dass zu wenig Wert auf die Anwendung von nicht medikamentösen Maßnahmen wie körperliche Aktivierung, Beschäftigungstherapie oder auch Entspannungsverfahren gelegt wird. Das kann mitunter mit Überforderung oder Zeit- und Personalmangel in der Pflege zu tun haben, vielleicht auch mit einem fehlenden Bewusstsein für die Risiken von Antipsychotika. Außerdem weiß man, dass diese Medikamente – einmal angesetzt – zu selten wieder reduziert oder abgesetzt werden.

Mit Ihrem Projekt „Decide“* wollen Sie das Problem angehen.

Wir werben für einen verantwortungsvolleren und bewussteren Umgang mit Antipsychotika bei Menschen mit Demenz. Wir wollen die Medikamente nicht verteufeln, es gibt Fälle, wo sie auch bei Demenz absolut ihre Berechtigung haben. Aber es gibt eben auch dieses unkritische Weiterverordnen, über Monate und Jahre. Da wollen wir Wege aufzeigen, wie man Antipsychotika risikoarm reduzieren oder sogar absetzen kann.

Woran erkenne ich, dass mein Angehöriger Antipsychotika bekommt?

Sehen Sie sich den Medikationsplan Ihres Angehörigen an. Manchmal steht in der rechten Spalte, warum der Patient ein Medikament bekommt. Wenn da etwas steht wie „bei Unruhe“ oder „bei Schlafstörungen“, ist das ein Hinweis. Die häufigsten verordneten Antipsychotika bei Demenz sind Risperidon, Pipamperon, Melperon und Quetiapin.

Und dann?

Ich ermuntere jeden Angehörigen, das Gespräch mit dem Arzt zu suchen. Warum bekommt mein Angehöriger dieses Medikament? Was ist das Ziel der Behandlung, wie lange soll das Mittel genommen werden? Kann man die Dosis reduzieren? Es ist immer gut, wenn Angehörige über die Medikation Bescheid wissen.

Was hilft anstelle von Medikamenten, wenn mein demenzkranker Angehöriger nicht zur Ruhe kommt?

Für psychosoziale Maßnahmen wie Beschäftigungstherapie oder Bewegung gibt es gute Belege aus Studien. Das hängt auch von den Vorlieben und dem Krankheitsstadium des Patienten ab. Was alle psychosozialen Maßnahmen eint, ist, dass da jemand ist, der sich auf den Betroffenen einlässt, der sich Zeit nimmt. Das ist die halbe Miete. Ob man ein Puzzle legt, Fotos ansieht oder spazieren geht, ist letztlich nicht so entscheidend.