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Frau Prof. Hasseler, Sie begutachten Patienten, wenn diese die Einstufung des Medizinischen Dienstes (MD) vor Gericht anfechten. Was haben Sie erlebt?

Ich war einmal bei einem jungen Mann, der Pflegegrad 1 statt 3 erhalten hatte. Er hat einen hohen Querschnitt, kann also nur Kopf, Schultern und Arme bewegen. Als Grund für die Einstufung hieß es, dass er nett lächeln und die Tür öffnen konnte. Ein anderes Mal besuchte ich einen erblindeten Mann. Der Begutachtende hatte ihm bei der Beurteilung nicht anerkannt, dass er Hilfen braucht, da er kognitiv voll orientiert war. Ich muss aber sagen: Das sind krasse Negativbeispiele. Ich werde gerufen, wenn etwas schlecht läuft. Es gibt viele Begutachtende beim MD, die sehr gute Arbeit machen.

Wie kann es dennoch zu solchen Fehleinschätzungen kommen?

Das liegt am Bewertungssystem: Wenn eine Person einen Pflegegrad beantragt, besucht ein Begutachtender vom MD sie und geht mit ihr einen Fragenkatalog durch, um die Pflegebedürftigkeit einzuschätzen. Hier gibt es sechs Module, wo Begutachtende Punkte vergeben. Je mehr Punkte, desto höher der Pflegegrad. In Modul 1 wird zum Beispiel geschaut, wie mobil jemand ist. In Modul 2 geht es um kognitive und kommunikative Fähigkeiten. Ein Problem ist, dass das System in den Modulen teils subjektive Beurteilungen und Bewertungen zulässt. Bei psychischen Erkrankungen zum Beispiel hängt alles von der Einschätzung des Begutachtenden ab. Ein anderes Beispiel: In Modul 2 und 3 profitieren Personen mit kognitiven Einschränkungen wie Demenz. Wer erblindet ist, bekommt keine Punkte im Bereich örtliche Orientierung. Das wirkt sich auf die Gesamtwertung aus. Ein Blick in die anderen Module zeigt: Das Bewertungssystem ist überwiegend auf Menschen mit demenziellen Erkrankungen ausgelegt.

War das früher anders?

Beim alten System waren Menschen mit demenziellen Erkrankungen viele Jahre benachteiligt. Darum war es wichtig, dass es reformiert wird. Nun ist es so, dass Menschen mit psychischen oder körperlichen Erkrankungen sehr schwer einen hohen Pflegegrad erreichen, obwohl sie hilfe- und pflegebedürftig sind, da sie zum Beispiel in manchen Modulen keine oder nur wenige Punkte bekommen.

Wie konnte das passieren?

Das liegt am Verständnis von Pflegebedürftigkeit: Für viele Politikerinnen und Politiker sind Pflegebedürftige alte, fragile Menschen oder Menschen mit Demenz.

Was müsste sich ändern, damit das System sich für alle verbessert?

Wir müssten zuerst zu einem richtigen Konstrukt von Pflegebedürftigkeit kommen und wissenschaftlich herleiten, wie wir es messen. Das aktuelle System der Pflegeversicherung halte ich so nicht für reformierbar. Es will im Grunde keine Pflege bezahlen, sondern bietet grundlegende Hilfeleistungen. Das Ziel ist, dass Angehörige zu Hause pflegen.

Was raten Sie Menschen, die mit ihrer Einstufung unzufrieden sind?

Gehen Sie in den Widerspruch, suchen Sie sich am besten Hilfe. Etwa bei Sozialverbänden oder Fachanwälten. Es ist wichtig, hier richtig vorzugehen. Viele Menschen nennen zum Beispiel alle medizinischen Diagnosen – aber die spielen für den Pflegegrad oft nicht die ausschlaggebende Rolle. Sie müssen erklären, wie Sie wegen Ihrer Erkrankung in Ihrer Selbstständigkeit eingeschränkt sind. Das ist das Relevante.


Quellen: